Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Pflegeversicherung. Hilfsmittelversorgung (hier: Multifunktionsrollstuhl). vollstationäre Pflege im Pflegeheim
Orientierungssatz
1. Grundsätzlich läßt der Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln nach Maßgabe des Vertrages über die stationäre Pflege die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 33 Abs 1 SGB 5 unberührt (vgl BSG vom 25.1.1995 - 3/1 RK 63/93 = SozR 3-2500 § 33 Nr 13).
2. Ein Hilfsmittel ist in den Fällen dem Leistungsbereich der sozialen Pflegeversicherung zuzuordnen, in denen es sich um ein "reines Pflegehilfsmittel" handelt, es also allein der Erleichterung der Pflege durch die Pflegeperson dient.
3. Die Vermeidung einer Isolation durch Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und Kommunikation bei älteren und behinderten Menschen ist stets als ein elementares Bedürfnis anzusehen, das die Eintrittspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung im Rahmen der Hilfsmittelversorgung rechtfertigt (vgl BSG vom 16.4.1998 - B 3 KR 9/97 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 27).
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte die 1919 geborene Klägerin, die im R-Stift in B (Pflegeheim) vollstationär gepflegt wird, mit einem Multifunktionsrollstuhl als Hilfsmittel zu versorgen hat.
Die Klägerin ist bei der Beklagten als Mitglied in der Krankenversicherung der Rentner pflichtversichert.
Am 05. Oktober 1998 ging bei der Beklagten die vertragsärztliche Verordnung eines Multifunktionsrollstuhls wegen Morbus Alzheimer durch den Facharzt für Allgemeinmedizin und Geburtshilfe Dr. M vom 03. September 1998 ein. Beigefügt war der Kostenvoranschlag des Sanitätshauses R vom 29. September 1998, in dem die Kosten für den Wiedereinsatz eines schon vorhandenen gebrauchten Multifunktionsrollstuhls mit 1.162,15 DM veranschlagt waren. Die Beklagte teilte dem Sanitätshaus R telefonisch und am 07. Oktober 1998 schriftlich mit, daß der Rollstuhl nicht genehmigt werde. Nach einer Aktennotiz war vorgesehen, die Ablehnung der Kostenübernahme auch der Klägerin zu übermitteln, wozu es aber nicht kam.
Am 09. November 1998 legte die Klägerin Widerspruch gegen die Ablehnung ein, nachdem ihre Tochter am 05. November 1998 von einem Mitarbeiter des Sanitätshauses R darauf hingewiesen worden war, daß die Beklagte für die Kosten des gebrauchten Rollstuhls nicht aufkomme. Zur Begründung trug sie vor, sie benötige den Multifunktionsrollstuhl sehr dringend, weil sie abgemagert sei. Ein gerades Sitzen sei ihr nicht mehr möglich. Sie sei daher sehr froh, daß der variable Rollstuhl zur Verfügung stehe. Die im Heim zur Verfügung stehenden Rollstühle seien leider nur für große und breite Personen und nicht für sie mit einer Größe von 1.53 m und ca. 38 kg ausgerichtet. Sie werde täglich im Wechsel von ihren drei Kindern und ihrem 82-jährigen Lebensgefährten besucht. Bei schönem Wetter könne sie mit dem Rollstuhl an der frischen Luft spazierenfahren. Ihr Lebenspartner legte noch sein an die Beklagte gerichtetes Schreiben vom 24. Dezember 1998 vor. Der bei der Beklagten eingerichtete Widerspruchsausschuß wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 1998 als unbegründet zurück.
Die Klägerin erhob hiergegen Klage zum Sozialgericht (SG) Heilbronn. Zur Begründung führte sie aus, sie könne seit Juli/August 1998 nicht mehr laufen. Nur durch den geeigneten Rollstuhl seien ihr der Kontakt zur Heimgemeinschaft sowie Ausfahrten an die frische Luft noch möglich. Sie habe ein Recht auf ein würdevolles Leben bis zu ihrem Tod. Sie legte eine Kopie des Urteils des Sächsischen Landessozialgerichts (LSG) vom 08. Januar 1997 (L 1 Kr 15/96) vor. Darin hatte das LSG entschieden, eine demenzkranke Pflegeheimbewohnerin habe Anspruch auf Versorgung mit einem Rollstuhl. Die Beklagte trat der Klage entgegen. Der Multifunktionsrollstuhl werde eindeutig mit pflegerischer Zielsetzung eingesetzt. Wie der Klageschrift zu entnehmen sei, könne die Klägerin den Rollstuhl nicht eigenständig bedienen. Er sei deshalb ein Pflegehilfsmittel und kein Hilfsmittel im Sinne des § 33 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V). Daß die Klägerin im Interesse einer sachgerechten Pflege einen Rollstuhl benötige, stehe außer Frage. Der Rollstuhl sei jedoch von der Pflegeeinrichtung zur Verfügung zu stellen. Diese könne sich von ihrer Verpflichtung nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) freistellen. Sie legte das klageabweisende Urteil des SG Ulm vom 20. Januar 1999 (S 1 KR 2907/97) vor, das in einem Rechtsstreit über die Versorgung mit einem elektrischen Antrieb für einen Rollstuhl (Via-Mobil) ergangen war.
Das SG erhob bei Dr. M eine sachverständige Zeugenauskunft. Dieser teilte unter dem 11. Februar 1999 mit, der Multifunktionsrollstuhl sei erforderlich, weil die Klägerin aufgrund ihrer Hirnschädigung weder allein gehen noch alleine im Rollstuhl sitzen könne. Bei dem konkreten Stuhl sei es möglich, die Rückenlehne so zu kippen, daß die Patientin in halb liegender Position gefah...