Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. GdB-Festsetzung. Begrenzung der Feststellungswirkung des Bescheids. abweichende Bewertung eines Einzel-GdB im Berufungsverfahren ohne Auswirkungen auf den Gesamt-GdB. Polyneuropathie. Einzel-GdB von 20 anstelle von 30

 

Orientierungssatz

1. Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs 1 S 1 SGB 9 2018 umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrunde liegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl BSG vom 24.6.1998 - B 9 SB 17/97 R = BSGE 82, 176 = SozR 3-3870 § 4 Nr 24). Der Einzel-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar.

2. Es ist somit nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten der Behörde oder der Vorinstanz Einzel-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird sind (hier: abweichende Bewertung des Einzel-GdB für eine Polyneuropathie durch das Berufungsgericht mit 20 anstelle mit 30).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 20.02.2019; Aktenzeichen B 9 SB 67/18 B)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Oktober 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit 50 und damit die Schwerbehinderteneigenschaft.

Er ist deutscher Staatsangehöriger und wurde 1957 in der oberschlesischen Ortschaft R. in der Republik Polen geboren. Dort besuchte er von 1964 bis 1972 die Grund- und Hauptschule. Danach absolvierte er eine dreijährige Ausbildung zum Elektriker und arbeitete anschließend in diesem Beruf, bevor er mit seiner Familie 1996 in die Bundesrepublik Deutschland einwanderte. Von 1977 bis 1984 war er als Elektroinstallateur tätig. Fortan bis zum Beginn der passiven Altersteilzeit im Herbst 2017 war er vollschichtig als Monteur in der Abteilung Kabelsatz und Einbau von Steuergeräten bei der A. AG in XX beschäftigt. Er bewohnt mit seiner Ehefrau, die 1985 an Multipler Sklerose erkrankte und seit 2010 eine Rente wegen Erwerbsminderung bezieht, ein Reihenhaus, in dessen Untergeschoss seit 2002 seine mittlerweile an Demenz erkrankte Mutter lebt.

Zuletzt stellte das Landratsamt bei ihm mit Bescheid vom 29. Juli 2013 den GdB mit 20 seit 7. März 2013 fest. Dem lag die versorgungsärztliche Einschätzung von Dr. Ab. vom Vormonat zugrunde, wonach degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, ein Bandscheibenschaden und Nervenwurzelreizerscheinungen einen GdB in dieser Höhe rechtfertigten.

Am 10. April 2015 beantragte der Kläger unter Hinweis auf Bandscheibenvorfälle, eine Polyneuropathie und eine Synkope die Neufeststellung des GdB.

Nachdem von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten des Klägers die Befundunterlagen beigezogen wurden, wertete sie Dr. Ab. im November 2015 versorgungsärztlich aus und sah nunmehr zudem für eine Polyneuropathie einen Einzel-GdB von 20 vor, woraus sich ein Gesamt-GdB von 30 ergebe. Das Landratsamt stellte daraufhin mit Bescheid vom 11. März 2016 den GdB in dieser Höhe seit 10. April 2015 fest. Der Widerspruch wurde vom Regierungspräsidium mit Widerspruchsbescheid vom 11. November 2016 zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 25. November 2016 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben, welches Dr. Ul., Fachärztin für Neurologie, Dr. Gu., Facharzt für Chirurgie, sowie Dr. Kr., Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin, spezielle Schmerztherapie, als sachverständige Zeuginnen und Zeugen befragt hat, welche im Februar 2017 geantwortet haben.

Dr. Ul. hat geäußert, sie habe den Kläger seit April 2015 und zuletzt im Dezember 2016 behandelt. Sie habe eine Polyneuropathie der Beine und ein chronisches Lendenwirbelsäulensyndrom diagnostiziert. Anamnestisch hätten infolge der Schädigung von peripheren Nerven brennende Missempfindungen und Schmerzen im Bereich der Füße bestanden. Infolge der Störung der Tiefensensibilität sei eine Unsicherheit bei den erschwerten Stand- und Gangprüfungen aufgefallen. Im längerfristigen Verlauf hätten sich eine Zunahme der Polyneuropathie sowie der dadurch bedingten Dysästhesien und Schmerzen feststellen lassen. Durch eine medikamentöse Behandlung mit Pregabalin, 50 mg (1-0-2) habe keine Schmerzfreiheit erreicht werden können. Aufgrund dessen, der Dysästhesien, der Kraftminderung der distalen Beinmuskulatur sowie der Stand- und Gangataxie bewerte sie den Einzel-GdB für die Polyneuropathie mit 30. Die wirbelsäulenbedingten Symptome erreichten einen Einzel-GdB von 20.

Dr. Gu. hat mitgeteilt, er behandele den Kläger seit 2002 und konkret wegen der Wirbelsäule seit 2014. Seit April 2015 konsultiere dieser ihn regelmäßig in jedem Quarta...

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