Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Festsetzung. Begrenzung der Feststellungswirkung des Bescheids. abweichende Bewertung eines Einzel-GdB im Berufungsverfahren ohne Auswirkungen auf den Gesamt-GdB. Funktionssystem "Psyche einschließlich Gehirn". Einzel-GdB von 10 anstelle von 30. sozialgerichtliches Verfahren. Erweiterung einer zunächst beschränkt eingelegten Berufung
Orientierungssatz
1. Ein Beklagter als Berufungskläger kann eine eingeschränkt eingelegte Berufung während des Berufungsverfahrens bis zum vollen Umfang seiner erstinstanzlichen Verurteilung erweitern (vgl LSG Stuttgart vom 7.12.2017 - L 6 VG 4996/15).
2. Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs 1 S 1 SGB 9 2018 umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrunde liegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl BSG vom 24.6.1998 - B 9 SB 17/97 R = BSGE 82, 176 = SozR 3-3870 § 4 Nr 24). Der Einzel-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar.
3. Es ist somit nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten der Behörde oder der Vorinstanz Einzel-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird sind (hier: abweichende Bewertung des Funktionssystems "Gehirn einschließlich Psyche" mit einem Einzel-GdB von 10 anstelle von 30).
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 13. September 2018 abgeändert und die Klage umfassend abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Klägers sind von dem Beklagten im gesamten Verfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich zuletzt gegen das erstinstanzliche Urteil, soweit er zur Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 30 verurteilt wurde.
Der 1969 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er wurde während eines Heimataufenthaltes seiner Eltern, die bereits in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) lebten, in der Republik Türkei geboren. Mit Beginn der Grundschulzeit zog er mit seiner Mutter und seinen sechs Geschwistern dorthin, während sein Vater im Bundesgebiet blieb. Mit elf Jahren kehrte er dauerhaft in die BRD zurück. Die Hauptschule, welche er ein Jahr besuchte, musste er verlassen, da er in eine Handgreiflichkeit verwickelt war. Auf Initiative seiner Eltern holte er den Hauptschulabschluss an der Volkshochschule nach. Er begann verschiedene Berufsausbildungen als Diamantschleifer, Hotelfachmann, Koch und Gipser, ohne allerdings einen Abschluss zu erzielen. Ab 1987 arbeitete er auf Initiative einer seiner Brüder, in einem Unternehmen, welches Aluminiumprofile herstellt, wo er als Maschinenbediener beschäftigt war.
2013 und im Folgejahr kam es zu vier Verkehrsunfällen mit dem Motorroller des Klägers. Beim ersten Ende 2013 rutschte er mit ihm aus, wobei er sich Prellungen und Schürfungen zuzog. Nach einem weiteren im Februar 2014 geschah der dritte drei Monate später, bei dem er auf die Windschutzscheibe eines Personenkraftwagens geschleudert wurde, als er sich auf einer vorfahrtsberechtigten Straße befand. Hierbei zog er sich Frakturen des dritten, vierten und fünften Brustwirbelkörpers, Brüche der dritten und vierten Rippe links, eine Grundgliedfraktur der Großzehe rechts, eine Prellung der linken Schulter sowie Zahnschädigungen im Bereich des Ober- und Unterkiefers zu. Die Assistenzärztin F., Abteilung Unfall-, Hand- und Wiederherstellende Chirurgie des O. Klinikums O., berichtete nach dem deswegen erforderlichen stationären Aufenthalt vom 17. bis 24. Mai 2014, bei einer stabilen Fraktursituation habe von einer Operation abgesehen werden können. Der Kläger sei unter krankengymnastischer Anleitung bis zur Schmerzgrenze mobilisiert worden. Er habe sich alsbald selbsttätig auf dem gesamten Klinikgelände bewegen können. Konsiliarisch sei ein Arzt der Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgie hinzugezogen worden, welcher keinen Handlungsbedarf gesehen habe. Beim vierten Unfall Ende August 2014 sei der Kläger mit seinem Motorroller mit einem Taxi kollidiert, dessen Fahrer von hinten auf ihn aufgefahren sei. Hierbei habe er sich eine Prellung am kleinen Finger der linken Hand zugezogen.
Am 16. Oktober 2015 beantragte der Kläger beim Landratsamt O. die Feststellung des GdB.
Dr. S., Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, berichtete über die bei ihr durchgeführte ambulante Psychotherapie, diese habe Ende Mai 2015 in einem Umfang von ein- bis zweimal in der Woche begonnen und Mitte Dezember 2015 geendet. Sie habe eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F 43.1), eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10 F 32.1) und eine narzisstisch-depressive Persönlichkeitsstruktur mit multiplem Suchtverhalten in Form einer Beziehungs-...