Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Jugendhilfeträgers gegen den vorrangig verpflichteten Sozialhilfeträger. Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Vorliegen oder Drohen einer wesentlichen körperlichen Behinderung. Diabetes mellitus Typ I. Gleichartigkeit der Leistungen nach dem SGB 8 und dem SGB 12

 

Leitsatz (amtlich)

Kann ein an Diabetes mellitus Typ I erkrankter Jugendlicher seine Erkrankung ohne Unterstützung Erwachsener beobachten und behandeln, liegt keine wesentliche körperliche Behinderung vor. Behandelt der Jugendliche seine Diabetes-Erkrankung nicht entsprechend dem Therapieplan, ist hierdurch auch nicht die Annahme gerechtfertigt, dass eine wesentliche körperliche Behinderung droht. Sind Leistungen allein wegen einer wesentlichen seelischen Behinderung zu erbringen, verbleibt es bei der Leistungspflicht des Trägers der Jugendhilfe.

 

Orientierungssatz

Die vom Jugendhilfeträger als geeignet und notwendig festgestellten und auch erbrachten Leistungen in Form eines Erziehungsbeistandes nach § 30 SGB 8, Inobhutnahmen nach § 42 SGB 8 sowie Heimerziehung bzw sonstige betreute Wohnform nach § 34 SGB 8 stellen keine Leistungen dar, die nach dem SGB 12 als Leistungen der Eingliederungshilfe für körperlich behinderte Menschen hätten erbracht werden können.

 

Normenkette

SGB VIII § 2 Abs. 2, § 7 Abs. 1 Nr. 4, § 10 Abs. 4 Sätze 1-2, §§ 27, 30, 34, 42, 85 Abs. 1, § 86 Abs. 2 Sätze 1-2, § 86a Abs. 4 Sätze 2-3; SGB XII § 53 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Sätze 1-2, § 54; SGB IX § 2 Abs. 1 S. 1; EinglHV § 1 Nrn. 1, 3, §§ 2-3; LKJHG Baden-Württemberg § 1 Abs. 1; SGB X § 103 Abs. 1, § 104 Abs. 1 S. 1; SGG § 54 Abs. 5, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 2

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. März 2018 abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten beider Instanzen zu tragen.

 

Tatbestand

Streitig ist im Berufungsverfahren noch die Erstattung von Kosten in Höhe von 59.667,04 Euro für Leistungen der Jugendhilfe, die der Kläger in der Zeit vom 16. April 2014 bis 31. Juli 2015 zugunsten der Hilfeempfängerin Y. R. erbracht hat.

Die Hilfeempfängerin wurde 1997 geboren. Im Sommer 2003 wurde bei ihr erstmals ein Diabetes mellitus Typ I diagnostiziert.

Nach der Scheidung der Eltern der Hilfeempfängerin wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht durch das Amtsgericht B. mit Beschluss vom 27. Oktober 2005 auf den Vater der Hilfeempfängerin übertragen. Zuletzt lebte die Hilfeempfängerin bei ihrem Vater in S. an der R. im Zuständigkeitsbereich des Klägers.

Die Eltern der Hilfeempfängerin beantragten beim Kläger erstmals im Januar 2013 die Gewährung von Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) in Form von Heimerziehung nach § 34 SGB VIII. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Hilfeempfängerin sei nicht in der Lage, im Alltag mit ihrem Diabetes verantwortungsvoll umzugehen, was in den vergangenen Monaten zu fast wöchentlichen Aufenthalten im Krankenhaus geführt habe. Sie könne bzw. wolle sich nicht in das Familienleben einfügen, was täglich zu Streitigkeiten führe, wobei die Hilfeempfängerin die Diabetes-Erkrankung gezielt als Druckmittel einsetze. Zu Hause könne die Situation mit dem Zucker und dem Benehmen nicht gemeistert werden.

Es wurde eine Unterbringung der Hilfeempfängerin im CJD (Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands) B. geplant. Das CJD bietet Kindern und Jugendlichen mit chronischen Gesundheitsstörungen unter anderem die Möglichkeit einer medizinisch-schulischen oder medizinisch-beruflichen Rehabilitation, wobei diese Maßnahmen auch bei gleichzeitig bestehenden jugendpsychiatrischen Indikationen möglich sind. Insbesondere junge Menschen mit Diabetes mellitus Typ I sollen dort Hilfe durch eine langfristige medizinische, pädagogische und psychologische Betreuung erhalten. In der Betreuung von Diabetikern arbeitet das CJD sehr stark mit speziell entwickelten Projekten, durch die das Krankheitsmanagement und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen gefördert werden (vgl. http://www.cjd-B..de/krankheitsbilder/diabetes/, recherchiert am 30. Oktober 2019).

Der Kläger bewilligte ab 18. April 2013 Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 34 SGB VIII in Form der vollstationären Unterbringung im CJD B. und Übernahme der Unterbringungskosten (Bescheid vom 25. April 2013). Den Vater der Hilfebedürftigen zog der Kläger zu einem Kostenbeitrag heran.

Durch den Kinder- und Jugendarzt Dr. S. vom CJD B. wurde unter dem 5. November 2013 (Bl. 51 der Pflegschaftsakten) bescheinigt, dass es täglich zu Hyperglykämien bzw. Hypoglykämien sowie einem Auslassen der regelmäßigen Blutzuckermessungen, die ein Diabetesmanagement und die Diabetesbehandlung unmöglich machten, komme. Die Hilfeempfängerin widersetze sich den ärztlichen Anordnungen. Aufgrund ihres Verhaltens bestehe die Gefahr einer diabetischen Entgleisung sowohl im Sinne einer Hypoglykämie als auch im Sinne einer langdauernden Hyperglykämie. Grundlage ...

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