Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Vergewaltigung. posttraumatisches Belastungssyndrom und Persönlichkeitsstörung. erneute Traumatisierung durch strafgerichtliches Verfahren. Folgeschaden durch "Deal" im Strafprozess. Bewährungsabsprache mit dem Täter. Erhöhung des Grads der Schädigungsfolgen. Verschlimmerung psychischer Vorschäden. fehlende Validität der DSM-5. Beschädigtengrundrente. Schädigungsfolge. Nachschaden. Bemessung des GdS
Leitsatz (amtlich)
Ein gesetzeskonformer "Deal" im Strafverfahren zugunsten eines Straftäters kann für das Opfer einer Gewalttat als weiteres traumatisierendes Erlebnis eine Gesundheitsstörung auslösen, die als Folgeschaden der Tat anzuerkennen und vom sog Nachschaden abzugrenzen ist.
Orientierungssatz
Da die exakte psychische Diagnose es nachvollziehbar machen muss, warum und in welchem Ausmaß eine Person psychisch krank ist, ist das DSM-5 besonders bei der posttraumatischen Belastungsstörung nicht geeignet, diese Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten (vgl LSG Stuttgart vom 27.8.2015 - L 6 VS 4569/14 = Breith 2016, 158).
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1; BVG § 9 Abs. 1 Nr. 3, § 30 Abs. 1 S. 1, Abs. 16, § 31 Abs. 1
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. November 2016 und der Bescheid vom 6. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2013 dahingehend abgeändert, dass der Beklagte verurteilt wird, der Klägerin Beschädigtengrundrente nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz ab 1. April 2011 nach einem Grad der Schädigungsfolge von 30 zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat ein Drittel der außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu tragen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt wegen der Folgen einer Vergewaltigung vom 10. Oktober 2010 die Gewährung von Beschädigtengrundrente nach dem Opferentschädigungsrecht.
Die 1979 in G./S. ehelich geborene Klägerin, die an einer angeborenen beidseitigen Schwerhörigkeit leidet, flüchtete mit ihrer Familie 1984 über die ungarische Grenze nach Ö. und von da aus weiter in die Bundesrepublik D., wo sie 1985 die erste Wohnung in St.-Z. bezog. Die Hauptschule verließ sie 2000 ohne Abschluss. Danach besuchte sie in L. ein berufspraktisches Jahr im Bereich Bürokommunikation, das sie aber nach drei Monaten abbrach. 2001 begann sie schließlich eine Ausbildung als Rechtsanwaltsfachangestellte, die sie erfolgreich abschließen konnte. Nach Ende der Lehrzeit starb der sie beschäftigende Rechtsanwalt 2004 an einem Schlaganfall, nach ihrer Darstellung in ihren Armen. 2005 ging sie daraufhin als Au Pair in die U., kehrte aber nach drei Monaten wieder nach D. zurück, um anschließend eine Au Pair-Tätigkeit in I. aufzunehmen, die wiederum nur sechs Wochen andauerte. Auch eine Au Pair-Tätigkeit in D. wurde rasch beendet, da sie dort eigenen Angaben zufolge nur als Reinemachefrau eingesetzt wurde. Ab Oktober 2006 übte sie eine Aushilfstätigkeit bei P. aus, die nach einem Jahr gekündigt wurde, woraufhin ein psychischer Zusammenbruch einsetzte. In dieser Zeit nahm sie wieder mit ihrem leiblichen Vater Kontakt auf, der sich seinerzeit in einer Suchtklinik aufhielt.
Bereits mit Bescheid vom 5. Dezember 2001 stellte der Beklagte einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 fest (Schwerhörigkeit beidseits - Teil-GdB 50, Bronchialasthma - Teil-GdB 10, Funktionsstörung der Schilddrüse - Teil-GdB 20).
Die Klägerin bezieht seit 2012 eine Erwerbsminderungsrente von zuletzt monatlich 428,32 €, zusätzlich hat sie Einkünfte aus einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherungsrente i.H.v. 1.086,03 €.
Am Vorabend der Tat war die Klägerin alleine in einer Gaststätte in L., wo sie erhebliche Alkoholmengen zu sich nahm. Gegen 4.10 Uhr des 10. Oktobers 2010 nahm sie den Nachtliner-Bus. Dort wurde der türkischstämmige Täter auf sie aufmerksam, da sie wegen eines akuten Asthmaanfalles hustete und Atemnot hatte. Sie stieg plangemäß an der Haltestelle aus, musste sich dann hustend nach vorne beugen, woraufhin der Täter sie zudringlich in der Absicht anfasste, sie in den naheliegenden Park zu bringen, was ihren Zustand noch verschlimmerte. Sie gab ihm deutlich zu erkennen, dass er sie in Ruhe lassen und weggehen solle, sagte mehrfach zu ihm: “Lass mich„. Der Asthma-Anfall verschlimmerte sich, so dass sie von Hustenkrämpfen geschüttelt auf dem Boden kniete. Der Täter trat an die nun hilflose Klägerin heran, schob ihr T-Shirt hoch und fasste ihr zwischen den Beinen unter die Strumpfhose und den Slip hindurch in den Genitalbereich, wobei er mit mindestens einem Finger zweimal hintereinander in ihre Scheide eindrang. Er versuchte dann erneut, sie am Oberarm in Richtung Park zu führen. Sie drehte sich zu ihm um und sagte: “Ich kenne dein Gesicht„, ging dann fort, wobei ihr der Täter weiter folgte. Sie drehte sich erneut um, hielt den Täter abwehrend in Schulterhöhe von sich und sagte: “Ich kenne dein Gesicht, lass mich i...