Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Bindung der MdE-Feststellung des Unfallversicherungsträgers. Bindungswirkung nur bei bestandskräftiger MdE-Feststellung vor Abschluss des schwerbehindertenrechtlichen Widerspruchsverfahrens. keine Bindung an nachträgliche anderweitige Feststellungen. Versorgungsmedizinische Grundsätze. kein GdB für episodische Kopfschmerzen. Abgrenzung zur echten Migräne. Psyche. leichte Anpassungsstörung nach einem Unfall. Lähmung des Nervs des Lendengeflechts. Remission

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das aus § 152 Abs 2 SGB IX resultierende Feststellungsverbot mit Bindung der Verwaltung an die anderweitig erfolgten Feststellungen greift nicht ein, wenn bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens durch Widerspruchsbescheid noch keine anderweitige bestands- oder rechtskräftige Feststellung der MdE, eines GdS oder eines GdB erfolgt ist.

2. Eine anderweitige Feststellung der MdE, eines GdS oder eines GdB nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens löst die Rechtswirkungen des § 152 Abs 2 SGB IX schon nach dem Wortlaut nicht (mehr) aus. Überdies lässt sich die mit der Regelung intendierte Verwaltungsvereinfachung nachträglich nicht mehr erreichen.

 

Orientierungssatz

1. Episodische Spannungskopfschmerzen (hier bei Schmerzmitteleinnahme an sieben Tagen im Monat) sind nicht mit einer echten Migräne iS von Teil B Nr 2.3 VMG gleichzusetzen und rechtfertigen keinen (Einzel-)GdB.

2. Eine leichte Anpassungsstörung aus konkretem Anlass (hier: Unfallereignis) ohne das Erfordernis medikamentöser Therapie, die unter niederfrequenter psychotherapeutischer Behandlung in 26 Monaten remittiert ist, kann keinen GdB von 20 begründen.

3. Eine Parese des Nervus oturatorius kann nicht mit einem GdB von 20 bewertet werden, wenn eine Behandlung zur einer vollständigen Remission geführt hat - zumal dieser Nerv in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) gar nicht aufgeführt wird.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 27.11.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) der Klägerin streitig.

Die im Jahr 1990 geborene Klägerin wurde am 20.02.2015 auf dem Zebrastreifen als Fußgängerin auf dem Weg zur Arbeit von einem Auto von rechts erfasst. Sie zog sich dabei neben einer erstgradigen offenen proximalen Oberarmtrümmerfraktur rechts mehrere komplexe Beckenfrakturen (dislozierte Acetabulumfraktur rechts, Fraktur des Os ilium rechts, Sprengung der IS-Fuge rechts sowie Impfaktion und Fraktur des Os pubis links) zu, die zunächst notfallmäßig im Klinikum H sowie anschließend regulär in der BG Klinik L im Rahmen eines stationären Aufenthalts vom 20.02.2015 bis zum 07.04.2015 operativ versorgt wurden. Der Unfall ist als Arbeitsunfall anerkannt. Wegen der Unfallfolgen bezieht die Klägerin seit dem 30.01.2017 Verletztenrente nach einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vom Hundert (v.H.) (Bescheide der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft ≪VBG≫ vom 13.09.2017 sowie vom 17.01.2018). Das Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 13.09.2017 (vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 40) sowie das anschließende Klageverfahren vor dem SG Heilbronn (Az. S 13 U 1599/18) blieben erfolglos.

Am 18.05.2015 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten unter Berufung auf die erlittenen Frakturen und die psychische Belastung durch den Unfall unter Vorlage eines psychologischen Berichts der BG Klinik L vom 26.03.2015, eines Operationsberichts vom 25.02.2015, eines stationären Aufnahmeberichts vom 07.04.2015 sowie eines Befundberichts der BG Klinik L vom 07.04.2015 die Feststellung ihres GdB ab dem 20.02.2015. Der Beklagte zog ergänzend den Entlassungsbericht der BG Klinik L vom 18.05.2015 bei. In ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 09.06.2015 berücksichtigte H als Funktionsbeeinträchtigungen eine Gebrauchseinschränkung des rechten Armes mit einem Einzel-GdB von 30 sowie eine Gebrauchseinschränkung des rechten Beines mit einem Einzel-GdB von 10. Eine seelische Störung bedinge keinen Einzel-GdB von wenigstens 10. Der Gesamt-GdB betrage 30.

Daraufhin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 15.06.2015 bei der Klägerin einen GdB von 30 und eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit im Sinne des § 33b EStG seit dem 20.02.2015 fest und führte aus, gesundheitliche Merkmale (Merkzeichen) könnten nicht festgestellt werden.

Ihren hiergegen erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin damit, der Beklagte habe keinerlei Auskünfte über ihre Gesundheitsstörungen bei W in H, der BG Klinik in L und der SLK-Klinik in H eingeholt, obgleich sie in ihrem Antrag darum gebeten habe. Sie müsse deshalb davon ausgehen, dass bei der Entscheidung von unvollständigen Informationen ausgegangen worden sei, und bitte um Neuentscheidung über die Höhe des GdB/die Feststellung eines Merkzeiche...

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