Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsprüfung. Beitragsnachforderung. rumänische Saisonarbeitskraft in einem landwirtschaftlichen Betrieb. zeitgeringfügige Beschäftigung. berufsmäßige Ausübung. Feststellungslast. Sozialversicherungspflicht. Sozialversicherungsfreiheit
Leitsatz (amtlich)
Lässt sich nicht mehr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen, ob Saisonarbeitskräfte ihre Tätigkeit für einen landwirtschaftlichen Betrieb berufsmäßig ausgeübt haben, geht dies zu Lasten des Rentenversicherungsträgers. Dieser trägt die Feststellungslast für die Berufsmäßigkeit, die im Rahmen eines Streits um die Versicherungspflicht nach § 8 Abs 1 Nr 2 SGB IV eine die Geringfügigkeit möglicherweise ausschließende und damit die angefochtenen Beitragsbescheide stützende Tatsache darstellt. Eine Umkehr der Feststellungslast tritt nicht allein deshalb ein, weil die Saisonarbeitskräfte in einem Fragebogen angekreuzt haben, Hausmann bzw Hausfrau zu sein und der Landwirt keine näheren Angaben dazu eingeholt hat, wovon die Saisonarbeitskräfte in ihrem Heimatland ihren Lebensunterhalt bestritten haben, wenn auch nach der Gestaltung des Fragebogens hierüber keine Auskunft erteilt werden musste.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 19.08.2020 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
Der Streitwert für das Klage- und das Berufungsverfahren wird endgültig auf jeweils 87.121,23 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen eine Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen für rumänische Saisonarbeitskräfte.
Die Klägerin ist eine mit Gesellschaftsvertrag vom 01.07.2006 (Seite 91/111 der Widerspruchsakte 1 der Beklagten) gegründete Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Mit dem Zusammenschluss bezwecken die beiden Gesellschafter (Vater und Sohn) die gemeinsame Führung und Bewirtschaftung eines landwirtschaftlichen Betriebs. In den Jahren 2012 bis 2015 beschäftigte die Klägerin zahlreiche rumänische Saisonkräfte. Das monatliche Arbeitsentgelt dieser Beschäftigten betrug mehr als 400 € (bis zum 31.12.2012) bzw 450 € (in der Zeit vom 01.01.2013 bis 31.12.2015). In allen Fällen war die Beschäftigung innerhalb eines Kalenderjahres auf längstens zwei Monate oder 50 Arbeitstage (im Zeitraum vom 01.01.2012 bis 31.12.2014) bzw drei Monate oder 70 Arbeitstage (im Jahr 2015) begrenzt. Vor Abschluss eines Arbeitsvertrages füllten die Saisonarbeitnehmer in Rumänien den in deutscher und rumänischer Sprache abgefassten „Fragebogen zur Feststellung der Versicherungspflicht/Versicherungsfreiheit rumänischer Staatsangehöriger“ aus. Die Fragen „Stehen Sie in einem Beschäftigungsverhältnis?“ (Frage 1), „Üben Sie in Rumänien eine selbständige Tätigkeit aus?“ (Frage 2), „Sind Sie in Rumänien arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldet?“ (Frage 3), „Besuchen Sie zur Zeit eine Schule, Hochschule, Universität oder eine andere Bildungseinrichtung?“ (Frage 4) und „Beziehen Sie eine Rente in Rumänien?“ (Frage 5) verneinten die Beschäftigten. Die unter Nr 6 aufgeführte Frage „Sind Sie Hausfrau/Hausmann?“ bejahten die Saisonkräfte. Unter Nr 7 des Fragebogens heißt es: „Wenn sämtliche vorstehenden Frage mit nein beantwortet wurden: Wovon bestreiten Sie in Rumänien Ihren Lebensunterhalt?“ Hierzu machten die Arbeitskräfte keine Angaben. Die Klägerin ging davon aus, dass es sich in allen Fällen um kurzfristige, sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse handelte und entrichtete für die Saisonarbeitnehmer lediglich Umlagen an die Minijob-Zentrale.
Gegen Ende des Jahres 2016 führte die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg (Beklagte) bei der Klägerin eine Betriebsprüfung nach § 28p Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) durch. Der Prüfzeitraum erstreckte sich auf die Zeit vom 01.01.2012 bis 31.12.2015. Mit einem an die Klägerin gerichteten Bescheid vom 28.04.2017 stellte die Beklagte fest, dass die sich aus Prüfung ergebende Nachforderung insgesamt 89.605,10 € beträgt. Sie forderte die Klägerin auf, die sich im Einzelnen aus der dem Bescheid beigefügten Anlage ergebenen Beträge an die AOK Baden-Württemberg als zuständige Einzugsstelle zu entrichten. In der „Anlage Berechnung der Beiträge nach § 28p Abs 1 SGB IV“ werden die Saisonarbeitskräfte namentlich aufgeführt und ihnen werden für genau bezeichnete Zeiträume konkrete Entgelte und die sich daraus ergebenden Beiträge für die gesetzliche Krankenversicherung, die soziale Pflegeversicherung, die gesetzliche Rentenversicherung und die Bundesagentur für Arbeit sowie die Umlagen für Krankheitsaufwendungen (U1), Mutterschaftsaufwendungen (U2) und für das Insolvenzgeld (UI) zugeordnet. Zur Begründung wurde nach Darlegung der maßgeblichen Rechtsvorschriften im Wesentlichen ausgeführt, die Versicherungspflicht der Saisonarbeitskräfte bestehe deshalb, weil diese ihre Tätigkeit berufsmäßig ausgeübt hätten. Hausfrauen bzw Hausmänner, die nicht zum Personenkreis der potentiellen Arbeitnehmer bzw Arbeitsuchenden gehörten...