Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. striktes soziales Vermeidungsverhalten als Auswirkung einer Gewalttat. posttraumatisches Belastungssyndrom. GdS von 20. sozialgerichtliches Verfahren. Bindung des Gerichts an bestandskräftig festgestellte Schädigungsfolgen. Angabe von Schädigungsfolgen im Tenor einer Klage auf Beschädigtenrente. unzulässige Elementenfeststellung eines GdS

 

Orientierungssatz

1. Für eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) des Opfers nach einer Gewalttat kann ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 20 anzusetzen sein, wenn die Gewalttat zwar beim Opfer zu einem strikten sozialen Vermeidungsverhalten geführt hat, der soziale Rückzug sich allerdings in diesem strikten Vermeidungsverhalten erschöpft.

2. Hat die Versorgungsbehörde bereits durch Bescheid bindend (§ 77 SGG) eine einzelne Schädigungsfolge (hier: PTBS) festgestellt, ist im Rahmen einer Klage auf höhere Beschädigtenversorgung nur noch zu prüfen, welcher Grad der Schädigungsfolgen (GdS) dadurch begründet wird.

3. Die (exakte) Bezeichnung einer Schädigungsfolge im Tenor einer gerichtlichen Entscheidung ist nur dann erforderlich, wenn die Feststellung dieser Schädigungsfolge nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG oder im Wege der Verpflichtung der Versorgungsbehörde zur Feststellung einer solchen Schädigungsfolge (zum Wahlrecht zwischen kombinierter Anfechtungs- und Feststellungsklage und kombinierter Anfechtungs- und Verpflichtungsklage vgl BSG vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R = SozR 3-3200 § 81 Nr 16) streitgegenständlich ist.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 22.05.2023; Aktenzeichen B 9 V 3/23 B)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. Mai 2021 teilweise aufgehoben und die Klage vollumfänglich  abgewiesen.

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. Mai 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung gegen die Verurteilung zur Feststellung eines Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 40 und der Gewährung einer Beschädigtengrundrente nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) nach diesem GdS. Der Kläger verfolgt mit seiner nachfolgend erhobenen Berufung die Gewährung einer Beschädigtengrundrente nach einem GdS von 60.

Er ist 1971 als zweites Kind geboren. Nach Abschluss der Realschule machte er eine Ausbildung zum Fachangestellten für Berufsförderung und war dann in diesem Beruf beschäftigt. Im Folgenden holte er das Abitur nach, studierte anschließend und erwarb den Abschluss als Diplom-Verwaltungswirt. Danach war er im Innenministerium, 2001 nach seinem Umzug zu seinem Partner nach K1 im Landratsamt tätig. 2002 wurde bei ihm eine erbliche Charcot-Marie-Tooth-Neuropathie Typ 4 C (CMT4C) diagnostiziert, wegen der er 2005 pensioniert wurde, wobei er aufgrund seiner Berufsunfähigkeitsversicherung über ein monatliches Einkommen von 4.500 € verfügt. Nebenberuflich ist er für maximal fünf Stunden in der Woche zur juristischen Beurteilung von „Verfahrensdingen“ für den B. tätig. Der Kläger ist verheiratet, sein erheblich sehbehinderter Ehemann war bis zum Verkauf seines selbständigen Unternehmens Florist und Dekorateur, aktuell pflegt er den Kläger (vgl. Gutachten R1).

Bei dem Kläger sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 (Polyneuropathie, psychovegetative Störungen, chronisches Schmerzsyndrom, Störungen der Koordination und des Gleichgewichts, essentieller Tremor Einzel-GdB 80, Funktionsstörung durch beiderseitige Fußfehlform und beiderseitige Zehenfehlform Einzel-GdB 30, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, Wirbelsäulenverformung Einzel-GdB 20, Akne Einzel-GdB 20, Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen, Schwindel, Vestibulopathie Einzel-GdB 20, vgl. versorgungsärztliche Stellungnahme vom 23. März 2011) sowie die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), „B“ (Berechtigung für eine ständige Begleitung), „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) und H („hilflos“) festgestellt (Bescheide des Landratsamts K1 (LRA) vom 23. September 2002, vom 14. September 2006, vom 20. September 2006 und Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 22. März 2011).

Am 30. Oktober 2018 beantragte der Kläger beim zum damaligen Zeitpunkt zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe - Amt für Soziales Entschädigungsrecht (LWL) die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Er führte aus, am 10. Februar 2017 gegen 12:45 Uhr im Einkaufszentrum H1 Opfer einer Gewalttat geworden zu sein. Der Täter sei D1 gewesen. Infolge der Tat habe er eine Platzwunde, eine Prellung, eine Zerrung der Halswirbelsäule (HWS), Hautabschürfungen und einen dauerhafte...

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