Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsstreit zwischen Eingliederungshilfeträger und Bundesagentur für Arbeit. Teilhabeleistungen. Kfz-Hilfe für ein duales Studium. Kfz-Hilfe nicht nur Annexleistung. eigenständige Sozialleistung. isolierte Gewährung. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Abgrenzung zu Leistungen zur sozialen Teilhabe. Schwerpunkt der Maßnahme. BAGüS-Hochschulempfehlungen. keine Begrenzung der Hilfen zur Mobilität auf betriebliche Ausbildung. Berücksichtigung des grundsätzlichen Nachrangs der Eingliederungshilfe
Leitsatz (amtlich)
Zur Bestimmung des zuständigen Leistungsträgers bei der Gewährung von Kfz-Hilfe als Eingliederungshilfe zur Durchführung eines praxisintegrierten dualen Studiums.
Orientierungssatz
1. Die Kosten für die Anschaffung und den behinderungsgerechten Umbau eines Kraftfahrzeugs (hier: in Form der Kfz-Hilfe in Höhe von 10.730 Euro) hat letztlich die Bundesagentur für Arbeit und nicht der Träger der Eingliederungshilfe zu tragen, wenn der behinderte Mensch zur Durchführung eines praxisintegrierten dualen Studiums auf ein Kraftfahrzeug angewiesen ist.
2. Die Kfz-Hilfe nach § 49 Abs 3 Nr 7 iVm Abs 8 S 1 Nr 1 SGB 9 2018 ist nicht nur als Annexleistung zu einer Hauptleistung zu gewähren, für die eine Zuständigkeit des Rehabilitationsträgers besteht, sondern auch isoliert als eigenständige Sozialleistung (Abgrenzung zu BSG vom 13.9.2011 - B 1 KR 25/10 R = BSGE 109, 122 = SozR 4-2500 § 42 Nr 1).
3. Bei der Abgrenzung der Zuständigkeiten für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben einerseits und Leistungen zur sozialen Teilhabe andererseits ist weiterhin auf den Schwerpunkt der jeweils in Frage stehenden Maßnahme abzustellen (so auch VGH München vom 2.12.2020 - 12 BV 20.1951 = ZFSH/SGB 2021, 174).
4. Insoweit führen die "Empfehlungen zu den Leistungen der Eingliederungshilfe zum Besuch einer Hochschule nach § 112 SGB IX" der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe ("BAGüS - Hochschulempfehlungen") im konkreten Fall nicht weiter, weil sie auf die spezifischen Besonderheiten eines dualen Studiums an keiner Stelle eingehen.
5. Die Anwendung des § 49 Abs 3 Nr 7 SGB 9 2018 ist nicht auf die Fälle einer betrieblichen Ausbildung begrenzt, sondern kann auch duale Studiengänge inklusive der theoretischen Phasen umfassen (vgl BSG vom 4.6.2013 - B 11 AL 8/12 R = BSGE 113, 283 = SozR 4-3250 § 33 Nr 6 zu § 33 Abs 3 Nr 6 SGB 9 aF).
6. Selbst wenn eine (gleichzeitige) primäre gesetzliche Zuständigkeit sowohl der Agentur für Arbeit als auch des Trägers der Eingliederungshilfe anzunehmen wäre, würde der zwingend geltende Nachranggrundsatz des § 91 SGB 9 2018 dazu führen, dass vorrangig die (auch) zuständige Agentur für Arbeit zu leisten hätte bzw für eine Erstattung nach § 104 SGB 10 in Anspruch genommen werden könnte.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 07.10.2021 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Der Streitwert wird endgültig auf 10.730 € festgesetzt.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch auf Kostenerstattung für die Gewährung von Kraftfahrzeughilfe zur Durchführung eines dualen Studiums an Herrn B1 (fortan: Leistungsempfänger - LE -) im Streit. Der 2002 geborene und in S1 wohnende LE leidet unter anderem an einer familiären, belastungsabhängigen Dystonie (Bewegungsstörung neurologischen Ursprungs mit unwillkürlichen Muskelkontraktionen) ICD-10 G 24.1 und einem Asperger-Syndrom bei Grenzbefund ICD-10 F 84.5. und ist damit behindert im Sinne von § 2 Abs. 1 SGB IX und dadurch teilhabebeeinträchtigt. Der LE verwendet abhängig von seiner körperlichen Belastung einen Rollstuhl mit E-Fix-Antrieb (Bericht des Universitätsklinikums G1 und M1 vom 31.03.2019; Bericht der Ärztin H1 vom 16.06.2009). Der A1 hat am 20.03.2020 bestätigt, dass der Kläger aufgrund seiner neurologischen Erkrankung keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen könne.
Der LE beantragte am 24.03.2020 bei dem klagenden Landratsamt N1 (fortan: Kläger) die Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe nach Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) in Form einer Kfz-Hilfe. Hierzu gab er an, ab dem 01.09.2020 bei der Firma SAP in W1 ein duales Studium beginnen zu wollen. Die praktische Ausbildung erfolge bei SAP in W1 und das Studium an der Hochschule K1. Er benötige das Kraftfahrzeug, um den Ausbildungs- bzw. Studienplatz zu erreichen.
Die Entfernung zwischen dem Wohnort des LE und der Firma SAP in W1 beträgt ca. 40 km, die Entfernung vom Wohnort des LE zur Hochschule K1 beträgt ca. 80 km. Die Fahrtzeiten der öffentlichen Verkehrsverbindungen zu diesen Zielen betragen mit Umsteigen ca. 2 ½ Stunden (W1) bzw. 3 Stunden (K1, jeweils nach Google Maps, Aufruf vom 17.05.2023). Der LE gab an, dass er im dualen Studium ab dem 01.09.2020 monatlich brutto 1.025,00 € erzielen werde und zum Antragszeitpunkt ein Vermögen von 1.055,00 € zur Verfügung gehabt habe.
Auf Nachfrage des Klägers ma...