Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Quasi-Berufskrankheit. Gruppentypik. Wahrscheinlichkeit. posttraumatische Belastungsstörung. Entwicklungshelfer im Krisengebiet

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Frage, ob eine Krankheit innerhalb einer bestimmten Personengruppe infolge der versicherten Tätigkeit in erheblich höherem Grade als in der übrigen Bevölkerung auftritt (sogenannte Gruppentypik), beurteilt sich bei der Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO bzw. des § 9 Abs. 2 SGB VII nach dem Maßstab der Wahrscheinlichkeit.

2. Entwicklungshelfer in Krisengebieten sind der Gefahr, infolge ihrer versicherten Tätigkeit eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln, in erheblich höherem Grade ausgesetzt als die Allgemeinbevölkerung in Deutschland.

Revision zugelassen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 20.07.2010; Aktenzeichen B 2 U 19/09 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 25.10.2005 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass festgestellt wird, dass die bei dem Kläger vorliegende posttraumatische Belastungsstörung wie eine Berufskrankheit zu entschädigen ist.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) bzw. gemäß § 551 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Der 1943 geborene Kläger absolvierte ein Studium der Diplomsozialarbeit. 1968 ging er in die Entwicklungshilfe. Im Einzelnen war er wie folgt beschäftigt:

- März 1968 bis Juni 1973 auf M. bei der F.

- Juli 1973 bis Juli 1975 in M. bei der F.

- August 1975 bis Dezember 1978 in D. bei dem D.(DED)

- Januar 1979 bis Januar 1983 in N. bei dem DED

- Februar 1983 bis Juni 1987 Assistent der Geschäftsleitung des DED in B.

- August 1987 bis Juli 1995 in T. für den DED

- 01.09.1995 bis Februar 1999 Referatsleiter im Regionalreferat W. des DED in B. mit mehreren Reisen in westA.nische Länder. Danach war er durchgehend arbeitsunfähig krank.

Anlässlich der stationären Behandlung in der Reha-Klinik G. vom 11.11. bis 18.12.1998 diagnostizierte Prof. Dr. H. u. a. eine mittelgradige depressive Episode mit somatischen Symptomen bei chronifizierter PTBS. Im Entlassungsbericht vom 04.01.1999 gab Prof. Dr. H. die anamnestischen Angaben des Klägers wieder, er leide seit Mitte 1996 unter ausgeprägten Einschlafstörungen und massiven Alpträumen, außerdem habe er über eine gesteigerte Reizbarkeit, intensive Schuldgefühle mit Selbstvorwürfen in Zusammenhang mit dem Einsatz von Mitarbeitern im Entwicklungsdienst, Konzentrationsstörungen und Hypervigilanz berichtet. Prof. Dr. H. führte aus, der Kläger sei mit mehreren Ereignissen konfrontiert gewesen, die lebensbedrohlich gewesen seien und eine schwere Verletzung und Bedrohung der physischen Integrität der eigenen Person und anderer (z. B. auch der Familienangehörigen) beinhaltet habe. Die traumatischen Ereignisse würden ständig in wiederholten, stark belastenden Alpträumen wieder erlebt. Die PTBS sei klinisch und testpsychologisch nachgewiesen und beeinträchtige die psychische und physische Funktionsfähigkeit derart, dass die derzeitige Berufstätigkeit nicht mehr ausgeübt werden könne. Von der damaligen B. (BfA) erhielt der Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit wegen eines am 18.02.1999 eingetretenen Versicherungsfalles (Bescheid vom 07.06.1999).

Am 01.02.1999 ging bei der Beklagten die Anzeige des DED über eine Berufskrankheit (BK) ein. Der Kläger führe seine PTBS auf den jahrelangen Aufenthalt in Krisengebieten, insbesondere die Konfrontation mit bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen während der Zeit als Landesbeauftragter in T. zurück. Die Beklagte holte die Stellungnahme der Gewerbeärztin Dr. F. vom L. für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und Technische Sicherheit B. vom 14.06.1999 ein. Diese führte aus, es liege keine BK nach einer bestimmten Listennummer vor und auch für eine Erkrankung nach § 9 Abs. 2 SGB VII fänden sich keine Hinweise.

Mit Bescheid vom 08.02.2000 nahm die Beklagte auf die in Kopie beigefügte Stellungnahme Dr. F.s Bezug und lehnte die Anerkennung einer PTBS als BK nach der Berufskrankheitenverordnung (BKV) ab. Da der Kläger als hauptamtlicher Mitarbeiter des DED nicht zum Kreis der versicherten Personen gemäß § 1 des Entwicklungshelfergesetz (EhfG) gehört habe, sei auch § 10 EhfG nicht anwendbar. Zur Begründung seines hiergegen eingelegten Widerspruchs legte der Kläger die Erklärungen des H. vom 16.06.1999 und des Dr. S. vom 08.07.1999 vor, die beide als Botschafter der Bundesrepublik D. in T. tätig waren und eng mit dem Kläger zusammengearbeitet hatten. Darin werden die bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse in T. in der Zeit von 1990 bis 1995 und die Belastungen beschrieben, denen der Kläger bei der Krisenbewältigung - insbesondere bei der Wahrnehmung der Verantwortung für die Sich...

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