Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. Versagung wegen leichtfertiger Selbstgefährdung. Hausrecht. vernunftswidriges Handeln. Übergang zum körperlichen Angriff in einer zugespitzten Situation. alkoholisierter und körperlich überlegener Täter. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Ablehnung eines Versorgungsanspruchs durch die Versorgungsbehörde. inzidente Ablehnung aller möglichen konkreten Versorgungsansprüche. sozialgerichtliches Verfahren. Unzulässigkeit einer Elementenfeststellungsklage. Grundurteil. konkretes Klagebegehren. Versorgung. Heilbehandlung
Leitsatz (amtlich)
1. Das Hausrecht ist ein notwehrfähiges Rechtsgut, dessen Verteidigung die Rechtswidrigkeit eines Angriffs entfallen lassen kann.
2. Mit der Ablehnung eines Versorgungsanspruchs liegt eine Verwaltungsentscheidung über alle möglichen Ansprüche auf Versorgung vor.
3. Im gerichtlichen Verfahren muss das Begehren konkretisiert werden, ein Grundurteil über "Versorgung" ist zu unbestimmt. Ebenso sind die Sachleistungsansprüche auf Heilbehandlung keinem Grundurteil zugänglich.
4. § 2 Abs 1 OEG ist eine Gegennorm zum Anspruch aus § 1 Abs 1 S 1 OEG und als zwingender Versagungstatbestand als negatives Tatbestandsmerkmal Teil des Versorgungsanspruchs.
5. Eine fahrlässige Selbstgefährdung kann darin liegen, in einer bereits zugespitzten Situation zu einem körperlichen Angriff überzugehen, selbst wenn ein solcher durch Notwehr zu rechtfertigen wäre.
6. Ein vernunftwidriges Vorgehen, dass eine Entschädigung unbillig erscheinen lässt, kann insbesondere bei einem körperlichen Angriff des Opfers gegen einen sichtlich alkoholisierten Täters trotz dessen erkennbarer körperlicher Überlegenheit bestehen.
Orientierungssatz
1. Zum Leitsatz 2: Abgrenzung zu BSG vom 16.3.2021 - B 2 U 7/19 R = BSGE 131, 297 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4115 Nr 1, vgl auch BSG vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R = BSGE 118, 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr 21.
2. Zum Leitsatz 3: vgl auch BSG vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R = BSGE 88, 240 = SozR 3-3800 § 1 Nr 20.
3. Zum Leitsatz 4: Abgrenzung zu LSG München vom 9.11.2017 - L 20 VG 26/15.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1, § 2 Abs. 1 S. 1, § 6 Abs. 3, § 10 S. 2, § 10a Abs. 1 S. 1; VersMedV § 2 Anl. Teil C Nr. 1, § 2 Anl. Teil C Nr. 2, § 2 Anl. Teil C Nr. 3; KOVVfG § 15 S. 1; BVG § 1 Abs. 3, § 9 Nr. 1, § 31 Abs. 2; StGB § 240; StPO § 127; BGB § 276; SGB VIII §§ 8-9; SGG § 54 Abs. 1, § 55 Abs. 1 Nrn. 1, 3, §§ 95, 112 Abs. 2 S. 2, § 118 Abs. 1, §§ 123, 128 Abs. 1 S. 1, §§ 130, 131 Abs. 5, § 140; ZPO § 415
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 8. Mai 2023 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich gegen die Feststellung des Ereignisses vom 6. März 2020, bei dem I1 H1 (Täter) dem Kläger mehrere Faustschläge gegen den Kopf versetzte, sodass dieser unter anderem eine Orbitabodenfraktur erlitt, als vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) sowie die Feststellung des Nichtvorliegens von Versagungsgründen im Sinne des § 2 Abs. 1 OEG.
Der Kläger ist 1985 geboren und war zum fraglichen Zeitpunkt als selbstständiger Detektiv im Einzelhandel (vgl. Leistungsantrag) tätig.
Mit Antrag vom 28. April 2020, von der Krankenkasse () am 4. Mai 2020 an das Versorgungamt S1 weitergeleitet, beantragte der Kläger bei dem Landratsamt A1 die Gewährung von Leistungen nach dem OEG. Angegeben wurde, dass er am 6. März 2020 als Ladendetektiv mit zwei Personen, welche zum Ladenschluss entgegen den erteilten Anweisungen den Laden betreten hätten, in eine tätliche Auseinandersetzung geraten sei. Er habe mehrere Schläge ins Gesicht bekommen und sei mit einem Krankentransport ins Klinikum B2 gebracht worden. Die Ermittlungen der Polizei liefen noch.
Das LRA zog die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft R1 bei, aus der sich folgendes ergab:
Im Polizeibericht über die Anzeigeaufnahme wurde dokumentiert, dass die Streifenwagenbesatzung um 22.10 Uhr vom Führungs- und Lagezentrum zum E1-Markt beordert wurde. An der Filiale habe der Kläger auf sich aufmerksam gemacht und angegeben, die Täter im Kreuzungsbereich der E2/S4 aus den Augen verloren zu haben. Eine Personenbeschreibung sei vom ihm bereits an das Führungs- und Lagezentrum durchgegeben worden. Der Kläger habe leicht im Bereich der Unterlippe geblutet und mehrere Hämatome im Gesicht aufgewiesen. Zum Hergang sei angegeben worden, dass die zwei Männer den Filialraum trotz des Hinweises des Klägers, dass bereits geschlossen sei, betreten hätten. Der Kläger habe die beiden erneut angesprochen und es sei zu verbalen Streitigkeiten gekommen. Auch der erneuten Aufforderung, die Filiale zu verlassen, sei nicht Folge geleistet worden. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, habe der Kläger einen der Männer an der Brust Richtung Aus...