Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. sachlicher Zusammenhang. Handlungstendenz. organisatorischer Verantwortungsbereich. mehrtägiges Einführungsseminar eines Ausbildungsbetriebs. Abendprogramm. gegenseitiges Kennenlernen der Auszubildenden. geförderte Ausbildungsmaßnahme der BA. Flurüberwachung durch Aufsichtsperson. Klettern über das Dach der Jugendherberge zum Nachbarzimmer. gruppendynamisches Verhalten eines 17 jährigen Auszubildenden

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zum Bestehen von Unfallversicherungsschutz im Fall eines Sturzes vom Dach einer Jugendherberge während eines mehrtägigen, durch den Ausbildungsbetrieb durchgeführten Einführungsseminars.

2. Es ist Teil eines gruppendynamischen Prozesses unter Jugendlichen und Ausdruck alterstypischer Unreife, wenn ein siebzehnjähriger Auszubildender mit dem Willen, einen gemeinsamen Abend mit weiteren Auszubildenden fortzusetzen und in dem Bewusstsein, dass der Flur durch eine Aufsichtsperson überwacht wird, über das Dach der Jugendherberge zum Nachbarzimmer klettert.

 

Orientierungssatz

Gruppendynamische Prozesse bestehen nicht nur in äußeren Handlungsabläufen, sondern lösen auch innere Vorgänge aus, die ihrerseits wieder zu einer Steigerung des äußeren Geschehens führen können

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 5. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren.

 

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung eines Unfalls als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung, den der 1997 geborene Kläger am 24.11.2014 während der Teilnahme an einem Einführungsseminar für Auszubildende des ersten Ausbildungsjahres des Internationalen Bundes (IB), Berufsbildungszentrum C-Haus R, in der Jugendherberge in L erlitten hat.

Der Kläger, bei dem eine Lernbehinderung besteht, begann im September 2014 eine integrative Ausbildung zum Fachpraktiker Hauswirtschaft beim Internationalen Bund (IB) R. Die Ausbildung wurde durch die Bundesagentur für Arbeit gefördert (im Rahmen von Leistungen nach § 112 Sozialgesetzbuch Drittes Buch ≪SGB III≫ i.V.m. §§ 33, 44 ff. Sozialgesetzbuch Neuntes Buch ≪SGB IX≫, vgl. Bescheid über Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form von Ausbildungsgeld und Fahrtkosten vom 24.10.2014). Vom 24.11.2014, 10 Uhr, bis 26.11.2014, 14:30 Uhr fand in der Jugendherberge in L eine dreitägige Einführungsveranstaltung für die Auszubildenden des ersten Ausbildungsjahres des IB aus den Bereichen Küche, Hauswirtschaft, Farbe und Holz statt. Es nahmen insgesamt elf Auszubildende, darunter der Kläger, und deren Ausbilder teil. Nach der Unfallanzeige des IB vom 10.12.2014 kletterte der Kläger am Abend des ersten Seminartags gegen 23:00 Uhr aus dem Fenster seines Zimmers auf das Dach der Jugendherberge, um ins Nachbarzimmer zu den weiblichen Auszubildenden zu gelangen. Dabei rutschte er aus und fiel aus ca. 8 m Höhe auf den Boden. Er erlitt multiple Frakturen, u.a. im Bereich des linken Oberarms, des Beckens und der Wirbelsäule.

Die Erstversorgung erfolgte im Z Klinikum B. Laut Bericht vom 25.11.2014 wurde der Kläger als ansprechbar und orientiert sowie leicht alkoholisiert wirkend beschrieben. Es wurde ein Blutalkoholwert von 0,50 Promille dokumentiert. Der Kläger wurde nach Schockraumversorgung und computertomographischer Untersuchung noch in der Nacht in die berufsgenossenschaftliche Uklinik (BG-Uklinik) T verlegt (Diagnosen laut Verlegungsbrief: komplette proximale Oberarmfraktur links, drittgradige offene Unterarmfraktur links, vordere und hintere Beckenringfraktur beidseits, Lungenkontusion beidseits, Frakturen der Querfort-sätze LWK 1-4 links, Niere rechts mit fraglicher Malformation). Im Rahmen der dortigen bis 30.12.2014 dauernden stationären Behandlung erfolgte die operative Versorgung der Frakturen (vgl. Bericht BG-Uklinik T vom 30.12.2014). Anschließend erfolgte eine komplex-stationäre Rehabilitation bis zum 17.02.2015 (vgl. Berichte BG-Uklinik T vom 14.01.2015 und vom 19.02.2015). Am 05.02. 2015 wurde eine vollständige Schädigung des linken Nervus radialis diagnostiziert. Vom 10.04. bis 05.05.2015 erfolgte eine berufsgenossenschaftliche stationäre Weiterbehandlung (BGSW). Im Vordergrund stand eine massive Bewegungseinschränkung des gesamten linken Armes. Der Kläger wurde arbeitsunfähig entlassen; die Fortführung der Ausbildung zum Hauswirtschafter sei nicht leidensgerecht. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Ausmaß werde in jedem Fall verbleiben (vgl. Bericht BG-Uklinik T vom 12.05.2015). Zur Verbesserung der Bewegungsfähigkeit des linken Armes erfolgten im Rahmen von weiteren Operationen am 28.07.2015 und am 02.06.2016 offene Arthrolysen des linken Ellenbogens (vgl. Berichte BG-Uklinik T vom 29.07.2015 und vom 08.06.2016).

Der Unfall wurde der Unfallkasse Baden-Württemberg gemeldet, die den Vorgang mit Schreiben vom 17.03.2015 an die Beklagte weiterleitete. Noch gegenüber de...

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