Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Unzulässigkeit: Grundurteil über "Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung". gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. Gesundheitserstschaden. haftungsbegründende Kausalität. Kausalitätsprüfung. erste Stufe: naturwissenschaftliche Betrachtung. zweite Stufe. wesentliche Bedingung. Ablehnung eines ungeeigneten Beweismittels: biomechanisches Gutachten. traumatischer Bandscheibenvorfall

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Grundurteil über "Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung" ist unzulässig.

2. Der Gesundheitserstschaden (hier Bandscheibenvorfall L5/S1) muss auf der ersten Stufe der Kausalitätsprüfung im natürlichen Sinne (zB zeitlicher Ablauf, klinische Symptomatik, zeitnahe ärztliche Dokumentation, Weiterarbeit) durch die versicherte Einwirkung verursacht worden sein.

3. Die Wesentlichkeit des Unfalls für die eingetretene Unfallfolge ist erst auf der zweiten Stufe zu prüfen.

4. Ein biomechanisches Gutachten kann keinen abschließenden Beweis über die Ursächlichkeit einer Krafteinwirkung auf eine isolierte Bandscheibenverletzung erbringen.

 

Normenkette

SGG § 130 Abs. 1, § 54 Abs. 1 S. 1, § 55 Abs. 1 Nrn. 1-2, §§ 77, 92 Abs. 1 S. 3, § 118 Abs. 1, § 128 Abs. 1 S. 1, §§ 143, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; SGB VII § 8 Abs. 1 Sätze 1-2, § 11 Abs. 1, § 102; SGB IV § 36a Abs. 1 S. 1 Nr. 2; ZPO §§ 286, 414, 418 Abs. 1; VwGO § 86 Abs. 2

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 27.04.2017; Aktenzeichen B 2 U 23/17 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 10. Februar 2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in keiner Instanz zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen ihre Verurteilung zur Anerkennung eines Arbeitsunfalls mit einem Bandscheibenvorfall (BS-Vorfall), zur Anerkennung von “Folgeschäden„ und zur “Gewährung von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung„.

Die Klägerin ist 1958 geboren. Sie war zur Zeit des angeschuldigten Vorfalls als Leitende Krankengymnastin bei der V. von P. Hospital gGmbH (im Folgenden: Arbeitgeberin) angestellt und im Krankenhaus R. tätig. In dieser Eigenschaft war sie bei der beklagten gewerblichen Berufsgenossenschaft (Beklagte) gesetzlich unfallversichert.

Die Arbeitgeberin erstattete am 5. April 2011 eine Unfallanzeige wegen eines Vorfalls am 5. Januar 2011. Sie teilte mit, die Klägerin habe sich beim Transfer eines Patienten auf einer “Bobath-Liege„ von der Rückenlage zum Sitzen “verhoben„ und einen BS-Vorfall im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) an den Segmenten L5/S1 erlitten. Sie habe vom 11. Januar bis zum 2. Februar 2011 nicht gearbeitet. Seit dem 4. April 2011 sei sie erneut arbeitsunfähig und zur stationären Behandlung in die neurologische Abteilung des Krankenhauses R. aufgenommen worden. Die Arbeitgeberin legte den Behandlungsbericht des Neurologen Dr. N. vom 17. März 2011 vor. Dieser führte aus, die Klägerin habe - eigenanamnestisch - schon vor drei bis vier Jahren Lumbalgien bekommen, als sie eine übergewichtige Patientin behandelt habe. Nunmehr habe sie am Tag nach dem Vorfall vom 5. Januar 2011 starke Schmerzen im linken Bein gehabt. Sie sei zunächst mit Schmerzmitteln und physiotherapeutisch behandelt worden. Jetzt - bei der Untersuchung am 16. März - sei die Rumpfbeugung kaum möglich, das Schober___AMPX_’_SEMIKOLONX___Xsche Zeichen betrage 10:12 cm, der Lasègue links sei positiv bei 30°, der Achillessehnenreflex links abgeschwächt. Paresen lägen nicht vor. Eine Computertomografie (CT) der LWS am 16. März 2011 habe durchgängig eine normale knöcherne Situation und unauffällige BS-Verhältnisse bei L2/3 bis L4/5 gezeigt. Im Segment L5/S1 bestehe dagegen ein ausgeprägter links mediolateral gelegener BS-Vorfall. Zu diagnostizieren sei ein sensibles Wurzelreizsyndrom S1 links bei dem genannten BS-Vorfall.

Die Beklagte forderte Dr. N. mit formlosem Schreiben vom 6. April 2011 auf, die Behandlung der Klägerin zu ihren - der Beklagten - Lasten einzustellen. Ein Arbeitsunfall liege nicht vor.

Mit Schreiben vom 9. März 2012, bei der Beklagten am 13. März 2012 eingegangen, rügte die Klägerin, dass der Vorfall noch nicht als Arbeitsunfall anerkannt sei. Sie habe einem etwa 90 bis 100 kg schweren Patienten mit Parkinson-Syndrom geholfen, sich vom Liegen ins Sitzen aufzurichten. Er sei unvorhergesehen zurückgefallen. Sie habe aus einer nach vorn gebeugten und nach links gedrehten Haltung im Reflex nachgegriffen. Direkt danach habe ein akutes BS-Syndrom eingesetzt. Die Klägerin legte ein Attest von Dr. N. vom 21. Februar 2012 vor, wonach er sie am 16. März 2011 ambulant und vom 4. bis 15. April 2011 stationär behandelt habe. Im weiteren Verlauf sei eine BS-Operation notwendig geworden. Es bestehe kein Zweifel an einem Ursachenzusammenhang zu der beruflichen Tätigkeit.

Die Beklagte zog das Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse der Klägerin bei, in dem für 2006 bis 2011 nur internistische Diagnosen und für den 11. bis 21. Jan...

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