Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen H. Begriff der Hilflosigkeit. keine Änderung durch Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Abschluss der Erstausbildung. lebenslange Kommunikationsstörung nur bei Auswirkungen auf die gesamte Lebensführung. Gleichklang zur Berücksichtigung der Berufsausbildung im BAföG und beim Kindergeld. UN-Behindertenrechtskonvention
Leitsatz (amtlich)
1. Durch die Neuregelungen der §§ 14, 15 SGB XI bzw § 72 SGB XIV ab 1.1.2024 haben sich die Beurteilungsmaßstäbe für das Merkzeichen "H" nicht geändert.
2. Die Fiktion von Hilflosigkeit bis zum Abschluss der Erstausbildung in den VG (Teil B Nr 5 d ee) ist eng auszulegen.
3. Eine lebenslange Kommunikationsstörung kommt nur dann ausnahmsweise in Betracht, wenn eine Gesundheitsstörung, wie eine Minderbegabung, das Erlernen von Verständigungsmöglichkeiten für die gesamte Lebensführung verhindert.
4. Versorgungsrechtlich ist der Abschluss der Erstausbildung nach denselben Maßstäben wie in der Ausbildungsförderung und nach dem Kindergeldgesetz zu beurteilen.
Orientierungssatz
1. Aus der UN-Behindertenrechtskonvention (juris: UNBehRÜbk) folgt schon deshalb nichts anderes, da diese keinen Anspruch auf eine bestimmte Art der Berücksichtigung von Behinderungen vermittelt und selbst keine Rechtsgrundlage für Leistungsansprüche bildet (vgl BSG vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R = BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69).
2. Zum Leitsatz 3: vgl auch BSG vom 10.12.2003 - B 9 SB 4/02 R = VersorgVerw 2004, 65.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 23. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Entziehung des Merkzeichens „H“ (hilflos).
Sie ist 1984 geboren und erlitt im Alter von zwei Jahren eine Hirnhautentzündung, die zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des Hörvermögens führte. 2006 hat sie begonnen Humanmedizin zu studieren und das Studium im Sommersemester 2020 nach 28 Fachsemestern abgeschlossen. Seit dem 1. September 2020 ist sie im Rahmen der Facharztausbildung befristet im Krankenhaus G beschäftigt. Sie hat zwei 2018 und 2021 geborene Kinder.
Auf ihren Erstantrag vom 10. November 1989 stellte das Versorgungsamt H mit Bescheid vom 29. November 1989 unter Berücksichtigung einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit beidseits und einer Sprachentwicklungsstörung einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 seit dem 1. April 1989 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), „B“ (ständige Begleitung), „H“ und „RF“ (Rundfunkgebührenbefreiung bzw. -ermäßigung) fest.
Mit Schreiben vom 15. Oktober 2015 hörte das Landratsamt R (LRA) zu einer Entziehung der Merkzeichen „G“, „B“ und „H“ an (§ 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X]). Bei angeborener oder im Kindesalter erworbenen Taubheit und an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit seien die Merkzeichen „G“ und „B“ in der Regel bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres begründet. Das Merkzeichen „H“ sei ab Beginn der Frühförderung und dann - insbesondere wegen des in dieser Zeit erhöhen Kommunikationsbedarfs - in der Regel bis zur Beendigung der Ausbildung anzunehmen. Die Voraussetzungen für die Merkzeichen „RF“ und „Gl“ (Gehörlos) seien weiter erfüllt, in der Höhe des GdB trete keine Änderung ein.
Mit Bescheid vom 25. November 2015 hob das LRA den Bescheid vom 29. November 1989 auf. Die Voraussetzungen für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen „G“, „B“ und „H“ lägen ab dem 28. November 2015 nicht mehr vor. Mit der Gesetzesänderung zum 1. Juli 2001 sei die Möglichkeit der Feststellung des Merkzeichens „Gl“ geschaffen worden. Dieses sei anzuerkennen, da Gehörlosigkeit vorliege. Das Merkzeichen „RF“ bleibe bestehen, der GdB betrage weiterhin 100.
Im Widerspruchsverfahren holte das LRA den Befundschein des M ein, der ausführte, dass die Klägerin schon im Jahr 2004 über Gleichgewichtsstörungen und ein Druckgefühl auf den Ohren geklagt habe. Eine Überprüfung der Funktion der Gleichgewichtsorgane habe damals keinen krankhaften Befund ergeben. Während der übrigen Konsultationen sei gelegentlich über Schwindel geklagt worden. Zur Aufrechterhaltung der Gleichgewichtsfunktion sei auch das Hörvermögen verantwortlich, hierauf könne die Klägerin nur sehr eingeschränkt bauen. Vor diesem Hintergrund seien die Beschwerden zu interpretieren.
M1 legte versorgungsärztlich dar, dass nach Vollendung des 16. Lebensjahres die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“ und „B“ nicht mehr vorlägen. Der beschriebene Schwindel bedinge keine Merkzeichen. Die Klägerin absolviere ein Medizinstudium und stehe kurz vor dem Abschluss. Falls es sich dabei um die berufliche Erstausbildung handele, stünde nach Abschluss des Studiums das Merkzeich...