Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausschluss des Anspruchs auf Gewaltopferentschädigung wegen des Verhaltens des Geschädigten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Straffreiheit des Täters nach der Unschuldsvermutung "in dubio pro reo" lässt die Rechtswidrigkeit eines tätlichen Angriffs nicht zwingend entfallen.

2. Nur bei neuen erfolgversprechenden Ermittlungsansätzen oder einer anderen Würdigung des Sachverhalts muss in dem sozialgerichtlichen Verfahren weiter aufgeklärt werden, ansonsten darf sich das Gericht auf die Ergebnisse der strafrechtlichen Ermittlungen stützen.

 

Orientierungssatz

1. Hat der Täter vom Opfer abgelassen und tritt die Flucht an, kann eine Verfolgung und das anschließende Schlagen des Täters durch das Opfer zum Ausschluss des Anspruchs auf Gewaltopferentschädigung wegen Selbstjustiz führen. Zur Wahrung seiner Entschädigungsansprüche muss sich das Opfer nach einem Angriff der Situation entziehen und polizeiliche Hilfe in Anspruch nehmen.

2. Wer die Gefährlichkeit eines Streits zwischen zwei Personen erfasst hat und sich dennoch in den Streit einmischt, erhält wegen leichtfertiger Selbstgefährdung keine Gewaltopferentschädigung, wenn er später von einer Streitpartei verletzt wird (hier: mit einem Messer in die Brust).

3. Die Glaubhaftmachung nach § 15 S 1 KOVVfG kommt zwar auch zur Anwendung, wenn Zeugen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen oder selbst als Täter in Betracht kommen (vgl BSG vom 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R = BSGE 122, 218 = SozR 4-3800 § 1 Nr 23). Sie setzt aber voraus, dass der Geschädigte nicht völlig widersprüchliche Angaben gemacht hat.

 

Normenkette

OEG § 1 Abs. 1 S. 1, § 2 Abs. 1 S. 1; BVG § 9 Abs. 1 Nr. 3, § 30 Abs. 1 S. 1, § 31 Abs. 1; KOVVfG § 15 S. 1; BGB § 267; SGG § 54 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 4, § 55 Abs. 1 Nr. 3, §§ 77, 95, 118 Abs. 1; ZPO §§ 383, 415

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 5. Februar 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) aufgrund von multiplen Stichverletzungen nach einer körperlichen Auseinandersetzung am 15. Oktober 2016 in einer Gaststätte.

Er ist 1980 geboren und arbeitete zum Tatzeitpunkt als Chirurgiemechaniker. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Am Abend des 15. Oktober 2016 befand er sich mit seiner Ehefrau L1 und seinen Bekannten L2 (nachfolgend: L2 ), dessen Frau L3 (nachfolgend: L3 ) sowie E1 (nachfolgend: E1 ) wie dessen Freundin M1 in der Gaststätte „E2“ in V1. Im Laufe des Abends kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung mit dem ihm nicht bekannten M2 (nachfolgend: M2 ), in deren Verlauf M2 dem Kläger multiple Stichverletzungen an Auge, Brustkorb und Oberschenkel zufügte.

Am 10. November 2016 beantragte der Kläger bei dem Landratsamt T1 (LRA) die Gewährung von Leistungen für Gewaltopfer und verwies auf den Ermittlungsbericht der Polizei.

Das LRA zog daraufhin die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft K1 (StA - Az.: 30 Js 2451/16) bei:

In der Tatnacht von der Polizei befragt gab der Kläger an, den M2 nicht zu kennen. Er sei vor dem Bistro im Raucherraum gewesen und dort von ihm mit dem Messer angegriffen worden. Das Messer habe er erst bemerkt, als ihm die Verletzung am Bein zugefügt worden sei. Zuvor habe ein langer schmaler Mann mit Glatze mit dem M2 Streit gehabt, er habe M2 beruhigen wollen und sei auf ihn zugegangen. Eine andere Person habe ebenfalls Streit mit M2 gehabt, alles sei rein verbal abgelaufen. M2 sei sehr aggressiv gewesen.

Er könne sich nur noch erinnern, dass er plötzlich die Treppe runtergeflogen sei, nachdem er oberhalb der Treppe etwas aufs Auge bekommen habe. Messerstiche habe er dann erst unterhalb der Treppe, als sie auf dem Boden gelegen hätten, gespürt, erst am Bein und dann am Oberkörper. Zwei weitere Personen hätten M2 festgehalten, „E3“ sei mit dabei gewesen, dieser habe ihm geholfen und versucht, die Blutung am Bein zu stoppen. „E3“ habe vor ihm gestanden, dahinter der M2. Als „E3“ mit ihm gesprochen habe, habe er aus dem Nichts einen Schlag gegen sein Auge gekommen, L2 habe zu diesem Zeitpunkt hinter ihm gestanden. „E3“ habe M2 festgehalten, weil dieser rumgebrüllt habe und immer lauter geworden sei. Er selbst habe den M2 weder angefasst, noch geschlagen. An dem Abend habe er circa 10 kleine Gläser Wodka getrunken, sich nicht stark betrunken gefühlt. Er habe keine Beleidigungen des Täters geäußert, sondern diesen nur beruhigen wollen. Es habe keinen Grund gegeben, ihn aus dem Nichts heraus zu schlagen. Er glaube, dass es sich um kein richtiges Messer gehandelt habe, sondern um ein Blechstück mit Spitze. Dies habe der M2 in der rechten Hand gehalten, ob es schon beim ersten Schlag zum Einsatz gekommen sei, könne er nicht beantworten.

Bei seiner Geschädigtenvernehmung am 21. Oktober 2016 gab der Kläger an, mit seiner Frau und weiteren Personen gegen 22.00 Uhr in der Gaststätte angekommen zu se...

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