Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. fiktive Klagerücknahme. Betreibensaufforderung: formelle, materielle und inhaltliche Anforderungen. Entscheidung über Prozesskostenhilfeantrag. Wegfall des Rechtsschutzinteresses. Klagebegründung. Verletzung der Mitwirkungspflicht. Amtsermittlungsgrundsatz. Objektive Beweislast. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Unterschrift durch den Richter. Streitgegenstand

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den formellen, materiellen und inhaltlichen Voraussetzungen für das Ergehen einer Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG und zur Notwendigkeit der vorherigen Entscheidung über einen Prozesskostenhilfeantrag.

Die Rücknahmefiktion des (eng. auszulegenden) § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG ist keine Sanktion für prozessuales Fehlverhalten und tritt nur bei einer rechtmäßig ergangenen Betreibensaufforderung ein.

 

Normenkette

SGG § 102 Abs. 2 S. 1, § 63 Abs. 1 S. 1, § 73a Abs. 1, § 92 Abs. 1 S. 4, §§ 103, 106a, 144; GG Art. 19 Abs. 4

 

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 3.2.2012 wird aufgehoben. Das Klageverfahren des Klägers S 13 KR 1110/11 ist fortzuführen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die gerichtliche Feststellung der Klagerücknahme (Rücknahmefiktion).

Der (1957 geborene) Kläger, Mitglied der Beklagten, begehrt in der Sache die Gewährung eines den einschlägigen Festbetrag übersteigenden (mehrkostenpflichtigen) Hörgeräts. Nach erfolglosem Verwaltungsverfahren (Ablehnungsbescheid vom 11.11.2009, Widerspruchsbescheid vom 4.11.2010) erhob er am 5.11.2010 Klage beim Sozialgericht Ulm (Verfahren S 13 KR 1110/11); außerdem beantragte er Prozesskostenhilfe. In der (per Fax) übersandten Klageschrift führte er aus, die Begründung erfolge nach Akteneinsicht.

Das Sozialgericht gab die Klageschrift zunächst an die Beklagte zurück, weil der Kläger die Klageschrift in deren Betreff als “Widerspruch„ bezeichnet hatte. Mit Schreiben vom 1.2.2011 sandte die Beklagte die Klageschrift an das Sozialgericht zurück; diese sei als Klage und nicht als Widerspruch zu werten.

Mit Verfügung vom 4.5.2011 bat das Sozialgericht den Kläger um Mitteilung binnen dreier Wochen, ob er sich ein Hörgerät angeschafft habe; ggf. möge er die Rechnung vorlegen. Dem Schreiben war offenbar das Formular zur Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht (Schweigepflichtentbindungserklärung) beigefügt. Mit Verfügung vom 21.7.2011 erinnerte das Sozialgericht den Kläger an die Beantwortung der Anfrage vom 4.5.2011. Hierfür wurde eine Frist bis 15.8.2011 gesetzt. Am 22.7.2011 teilte der Kläger dem Sozialgericht telefonisch mit, ihm liege das Schreiben des Gerichts vom 4.5.2011 nicht vor. Mit Verfügung vom 2.8.2011 übersandte das Sozialgericht dem Kläger eine Mehrfertigung der Verfügung vom 4.5.2011 und bat um Stellungnahme bis 15.8.2011.

Am 1.9.2011 ging beim Sozialgericht ein Fax des Klägers ein. Dieses enthält eine unvollständige Kopie der Schweigepflichtentbindungserklärung. Angegeben ist ein Arzt (Dr. M.); die Unterschrift des Klägers fehlt.

Mit Verfügung vom 2.9.2011 teilte das Sozialgericht dem Kläger mit, er habe die Schweigepflichtentbindungserklärung nur unvollständig übersandt, insbesondere ohne Unterschrift. Damit habe er keine rechtsgültige Erklärung abgegeben. Es werde gebeten, dies binnen drei Monaten nach Erhalt dieses Schreibens nachzuholen. Außerdem fehle die Antwort auf die Anfrage vom 4.5.2011 und ggf. Übersendung der Rechnung. Ohne diese Angaben und Nachweise könne der Rechtsstreit nicht entschieden werden. Der Verfügung ist abschließend folgender Hinweis beigefügt: Wenn Sie sich innerhalb der Frist nicht äußern und meine Fragen vollständig beantworten und die Entbindungserklärung sowie ggf. die Rechnung in Kopie übersenden, gehe ich davon aus, dass Sie kein Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits haben und die Klage damit gemäß § 102 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gilt. Die Verfügung ist von der zuständigen Richterin handschriftlich verfasst und mit deren (vollständigen) Nachnamen unterschrieben. Die Verfügung wurde dem Kläger mit Postzustellungsurkunde am 3.9.2011 zugestellt.

Mit Beschluss vom 12.12.2011 lehnte das Sozialgericht den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers ab. Zur Begründung führte es aus, das Klageverfahren sei bereits durch fiktive Klagerücknahme beendet. Nach Abschluss des Verfahrens könne Prozesskostenhilfe grundsätzlich nicht mehr bewilligt werden. Das Gericht habe die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag nicht verzögert. Entscheidungsreife sei mangels Glaubhaftmachung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nicht eingetreten.

Mit Verfügung vom 13.12.2011 wurde dem Kläger der im Prozesskostenhilfeverfahren ergangene Beschluss vom 12.12.2011 übersandt. In der Verfügung ist außerdem ausgeführt: Nachdem Sie der Aufforderung vom 2.9.2011, das Verfahren binnen drei Monaten weiterzubetreiben, nicht gefolgt sind, gilt die Klage gemä...

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