Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Hilfe zur Pflege. häusliche Pflege. häusliche Pflegehilfe. Erbringung der Leistungen am Arbeitsplatz des Pflegebedürftigen
Leitsatz (amtlich)
Der Begriff der "häuslichen" Pflegehilfe in § 64b SGB XII dient allein der Abgrenzung zur stationären Pflege. Für die Einstufung als häusliche Pflegehilfe kommt es also nicht auf den Aufenthaltsort des Pflegebedürftigen an, sondern allein auf die Art der Leistung. Wird die Pflege von einem ambulanten Pflegedienst oder einer einzelnen Pflegekraft durchgeführt, handelt es sich um "häusliche" Pflegehilfe - unabhängig davon, ob sie zu Hause beim Pflegebedürftigen erfolgt oder anderswo, zB am Arbeitsplatz.
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 23. April 2018 wird mit der Maßgabe, dass dem Kläger die für die pflegenahe Unterstützung am Arbeitsplatz im Zeitraum vom 1. Juli 2017 bis 30. Juni 2020 entstandenen Kosten in Höhe von 18.302,46 Euro zu erstatten sind, zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten für das Berufungsverfahren zu erstatten. Darüber hinaus sind keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Übernahme der Kosten für pflegenahe Unterstützung am Arbeitsplatz für die Zeit vom 01.07.2017 bis 30.06.2020 in Höhe von 18.302,46 Euro.
Der 1989 geborene Kläger leidet an Muskeldystrophie, die zu einer Schwäche der Muskeln in Schultern, Oberarmen, Rumpf, Becken und Beinen führt. Angesichts dessen ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Vom 01.01.2017 bis 30.09.2017 hatte die Pflegekasse beim Kläger den Pflegegrad 3 anerkannt; ab dem 1.10.2017 berücksichtigte sie den Pflegegrad 4. Seit 02.09.2020 besteht Pflegegrad 5. Die Pflegekasse zahlte dem Kläger bis zum 30.06.2020 Pflegegeld, welches seine Mutter, die ihn zu Hause pflegt, erhalten hat. Das Pflegegeld betrug bis 30.09.2017 monatlich 545,00 Euro und ab dem 01.10.2017 monatlich 728,00 Euro (Bescheide vom 5.12.2016 und 18.12.2017; Bl. 2059 VA).
Es sind ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G, aG und H festgestellt (vgl. Bl. 2061 VA).
Der Kläger lebt allein in einer seinen Eltern gehörenden Wohnung in R, die mit strombetriebenen Nachtspeicheröfen geheizt wird. Laut Mietvertrag (vgl. z.B. Bl. 145 LSG Akte) bzw. der vorliegenden Kontoauszüge bezahlt er für seine Unterkunft insgesamt 480,00 Euro pro Monat (442,00 Euro Netto-Kaltmiete; 38,00 Euro warme Betriebskosten).
Der Kläger ist bei der M GmbH in O seit 2013 als Softwareentwickler beschäftigt. Seine Arbeitszeit beträgt 30 Stunden pro Woche. Sein monatliches Nettoarbeitsentgelt betrug 2017 durchschnittlich 1.694,34 Euro, 2018 1.749,06 Euro, 2019 1.841,52 Euro und 2020 1.775,47 Euro (vgl. Bl. 142 ff.). Von der Wohnung zum Arbeitsplatz (und zurück) wird der Kläger im Auto von einem Mitarbeiter des Lebenshilfe e.V. gefahren. Bis März 2020 erfolgte der Transport mit einem Auto, das dem Bruder gehörte. Dieser stellte dem Kläger das Auto monatlich für 300,00 Euro Nutzungsentgelt (inkl. Steuern/ Versicherungen, ohne Benzin) zur Verfügung (vgl. Bl. 266 LSG Akte). Der Mitarbeiter der Lebenshilfe e.V. hilft dem Kläger auch beim Ein- und Aussteigen; zudem verlädt er den Rollstuhl. Darüber hinaus ist der Mitarbeiter während der Arbeitszeit im Betrieb anwesend. Er unterstützt den Kläger als Arbeitsassistenz bei der Berufstätigkeit, hilft ihm dort aber auch bei persönlichen Verrichtungen, z.B. beim Essen und Trinken, bei Toilettengängen, beim Verabreichen von Augentropfen sowie beim Transfer vom Rollstuhl auf eine Liege (und zurück) im Ruheraum.
Für die Fahrtkosten erhält der Kläger einen Zuschuss von der Bundesagentur für Arbeit als Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Allerdings muss der Kläger einen Eigenanteil, der sich aus einer monatlichen Pauschale und einem Betrag für jeden Tag, an dem er zur Arbeit gefahren wird, zusammensetzt (Bescheide vom 22.9.2016, Bl. 723 VA, 19.10.2017, Bl. 1431 VA, 01.10.2018 LSG-Akte).
Die Kosten der Arbeitsassistenz übernimmt der Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS). Von der Bewilligung ausgenommen hat der KVJS indes die Kosten für „pflegerisch bedingte Zeiten“ (Bescheide vom 08.09.2016, Bl. 717 VA, 08.08.2017, Bl. 1013 VA, 15.08.2017, 17.08.2018 und 23.09.2019 LSG- Akte). Gegen diese Einschränkung hat der Kläger beim KVJS Widerspruch eingelegt; das Widerspruchsverfahren ist dort noch anhängig.
Bis zum 31.12.2016 hatte der Beklagte dem Kläger Hilfe zur Pflege gewährt - zuletzt ergänzendes Pflegegeld in Höhe von 220,20 Euro pro Monat sowie Leistungen für pflegenahe Unterstützung in Höhe von 163,00 Euro pro Monat, insgesamt 383,20 Euro (vgl. Bescheid vom 08.11.2016, Bl. 751 VA).
Auf den Verlängerungsantrag des Klägers vom 15.12.2016 (Bl. 769 VA) bewilligte ihm der Beklagte mit Bescheid vom 27.03.2017 (Bl. 815 VA) erneut Hilfe zur Pflege in Höhe von monatlich 383,20 Euro, allerdings nur bis zum 30.6.2017. Zur Begründung der Ablehnung ab dem 01.07.2017 gab er an, dass ...