Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Hilfe zur Pflege. häusliche Pflege. Pflegegeld. Festbetrag. häusliche Pflegehilfe. Unterstützung am Arbeitsplatz. Leistungskonkurrenz. Erhalt gleichartiger Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften. Kostenerstattung für selbstbeschaffte Leistungen
Leitsatz (amtlich)
1. Bei den Pflegegeldsätzen nach § 64a SGB XII handelt es sich um feste Beträge, die nicht im Einzelfall erhöht werden können. Ein Pflegebedürftiger kann daher kein "ergänzendes" Pflegegeld für eine besondere Pflegekraft beanspruchen.
2. Der Begriff der "häuslichen" Pflegehilfe nach § 64b SGB XII dient allein der Abgrenzung zur stationären Pflege. Für die Einstufung als häusliche Pflegehilfe kommt es nicht auf den Aufenthaltsort des Pflegebedürftigen an, sondern allein auf die Art der Leistung: Wird die Pflege von einem ambulanten Pflegedienst oder einer einzelnen Pflegekraft durchgeführt, handelt es sich um "häusliche" Pflege - unabhängig davon, ob sie zu Hause beim Pflegebedürftigen erfolgt oder anderswo, etwa an dessen Arbeitsplatz.
3. Der Ausschluss von Leistungen der Hilfe zur Pflege nach § 63b Abs 1 SGB XII setzt voraus, dass der Pflegebedürftige gleichartige Leistungen eines anderen Trägers tatsächlich erhält. Ein möglicher Anspruch auf die anderweitige Leistung genügt nicht.
4. Hat der Sozialhilfeträger zu Unrecht eine Pflegesachleistung nach § 64b SGB XII abgelehnt und beschafft sich der Pflegebedürftige diese daraufhin selbst, muss ihm der Sozialhilfeträger die Kosten hierfür erstatten; § 13 Abs 3 S 1 SGB V findet entsprechende Anwendung.
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheids vom 27.3.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.8.2018 verurteilt, dem Kläger 4.315,08 € sowie diejenigen Kosten zu erstatten, die ihm für die pflegenahe Unterstützung am Arbeitsplatz ab dem 1.3.2018 durch den L. e.V. entstehen.
2. Der Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch auf Hilfe zur Pflege ab dem 1.7.2017.
Der 29-jährige Kläger lebt allein in einer Wohnung in R., die mit strombetriebenen Nachtspeicheröfen geheizt wird. Laut Mietvertrag muss er für seine Unterkunft insgesamt 480 € pro Monat zahlen (442 € Netto-Kaltmiete; 38 € warme Betriebskosten).
Er leidet an Muskeldystrophie, die zu einer Schwäche der Muskeln in Schultern, Oberarmen, Rumpf, Becken und Beinen führt. Angesichts dessen ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Vom 1.1. - 30.9.2017 hatte die Pflegekasse beim Kläger den Pflegegrad 3 anerkannt; seit dem 1.10.2017 berücksichtigt sie den Pflegegrad 4. Die Pflegekasse zahlt dem Kläger Pflegegeld: bis zum 30.9.2017 monatlich 545 €, seither monatlich 728 € (Bescheide vom 5.12.2016 und 18.12.2017). Gepflegt wird er zu Hause von seiner Mutter.
Der Kläger ist bei der M. GmbH in O. beschäftigt. Sein monatliches Arbeitsentgelt beträgt 2.463 € brutto / 1.607,20 € netto. Von der Wohnung zum Arbeitsplatz (und zurück) wird der Kläger im Auto von einem Mitarbeiter des L. e.V. gefahren. Der Mitarbeiter hilft ihm auch beim Ein- und Aussteigen; zudem verlädt er den Rollstuhl. Darüber hinaus ist der Mitarbeiter während der Arbeitszeit im Betrieb anwesend: Er unterstützt den Kläger als Arbeitsassistenz bei der Berufstätigkeit, hilft ihm dort aber auch bei persönlichen Verrichtungen, z.B. beim Essen und Trinken, bei Toilettengängen, beim Verabreichen von Augentropfen sowie beim Transfer vom Rollstuhl auf eine Liege (und zurück) im Ruheraum.
Die Bundesagentur für Arbeit zahlt dem Kläger als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben einen Zuschuss zu den Fahrtkosten. Allerdings muss der Kläger einen Eigenanteil tragen: zum einen 12,22 € für jeden Tag, an dem er tatsächlich zur Arbeit gefahren wird, zum anderen monatlich pauschal 20 € / ab dem 1.10.2017 pauschal 40 € (Bescheide vom 22.9.2016 und 19.10.2017).
Weiterhin erhält der Kläger vom Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS) einen Zuschuss zu den Kosten für die Arbeitsassistenz. Von der Bewilligung ausgenommen hat der KVJS indes die Kosten für „pflegerisch bedingte Zeiten“ (Bescheide vom 8.9.2016 und 15.8.2017). Gegen diese Einschränkung hat der Kläger beim KVJS Widerspruch eingelegt; das Widerspruchsverfahren ist dort noch anhängig.
Für die „pflegenahe Unterstützung“ während der Arbeit hat der L. e.V. dem Kläger im streitigen Zeitraum bisher folgende Beträge in Rechnung gestellt: 660,87 € (für Juli), 292,53 € (für August), 542,43 € (für September), 442,68 € (für Oktober), 572,25 € (für November), 549,57 € (für Dezember), 757,68 € (für Januar) und 497,07 € (für Februar).
Bis zum 31.12.2016 hatte der Beklagte dem Kläger Hilfe zur Pflege gewährt - zum einen ergänzendes Pflegegeld in Höhe von 220,20 € pro Monat, zum anderen Leistungen für pflegenahe Unterstützung in Höhe von 163 € pro Monat, insgesamt 383,20 €.
Auf den Verlängerungsantrag des Klägers vom 15.12.2016 bewilligte ihm der Beklagte mit Bescheid vom 27.3.2017 erneut Hilfe zur Pflege in Höhe von monatlich 383,20 €, ...