Leitsatz (amtlich)
Das Verschulden der Bevollmächtigten ist dem Beteiligten wie eigenes Verschulden zuzurechnen. Ein nicht zurechenbares Verschulden von Hilfspersonen liegt nur dann vor, wenn es trotz ausreichender Vorkehrungen zu einem Büroversehen gekommen ist. Bestehen nur allgemeine Anweisungen an das Sekretariat, Berufungen per Fax einzulegen ohne konkrete Vorgaben zur Führung und Handhabung eines Fristenkalenders, liegt ein schuldhaftes Organisationsverschulden vor.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 24.03.2022 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in der Sache über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, was die Beklagte mit Bescheid vom 04.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.09.2020 ablehnte.
Die hiergegen am 22.09.2020 erhobene Klage hat das Sozialgericht Konstanz (SG) mit Gerichtsbescheid vom 24.03.2022 abgewiesen. Dieser Gerichtsbescheid ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 05.04.2022 mittels Empfangsbekenntnis (Bl. 118 SG-Akte) zugestellt worden.
Am 20.06.2022 ist die Berufungsschrift vom 02.06.2022 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der versäumten Berufungsfrist beantragt. Hierzu hat sie ausgeführt, die (beigefügte) Berufungsschrift vom 25.04.2022 sei vom zuständigen Sozialrechtsreferenten unterschrieben, jedoch versehentlich nicht vom zuständigen Sekretariat an das LSG gefaxt und wohl auch nicht zur Post gegeben worden. Zuständig für die Einlegung sowie Übersendung der Berufung sei das Sekretariat, so dass es sich um ein von den Bevollmächtigten nicht zu vertretendes Sekretariatsverschulden handele. Die an diesem Tag zuständige Sekretärin Frau S müsse es wohl aufgrund von Vertretungen aus Zeitnot versäumt haben, die Berufung abzuschicken oder zu faxen. Eine Überwachung, ob tatsächlich die Übersendung per Fax erfolge, gebe es nicht. Inhaltlich erachte sich der Kläger weiterhin für nicht in der Lage, leichte Tätigkeiten zu verrichten und verweise insoweit auf die Aussage von H, die ihn lediglich drei bis unter sechs Stunden täglich für erwerbsfähig erachtet habe.
Nach Hinweis der Vorsitzenden vom 26.07.2022 hat die Bevollmächtigte des Klägers ergänzend vorgetragen, es handele sich bei Frau S um eine ausgebildete Rechtsanwaltsfachangestellte mit langjähriger Berufserfahrung. Hilfstätigkeiten, auch das Absenden fristwahrender Schriftstücke, dürften auf gut ausgebildete und sorgfältig überwachte Angestellte delegiert werden. Intern sei geregelt, dass Berufungen in den Außengeschäftsstellen der VdK SR gGmbH eingelegt und die Akten sodann zur Bearbeitung nach S versandt würden. Dies gehöre zu den allgemeinen Anweisungen ebenso wie die Einlegung von Berufungen per Fax. Die ausgebildeten Rechtsanwaltsfachangestellten seien dahingehend geschult, dass sie das Versenden der Rechtsmittel selbstständig vornähmen. Statt den unterzeichneten Berufungsschriftsatz zu versenden und die Faxprotokolle zu kontrollieren, habe Frau S dies am 25.04.2022 wohl vergessen und stattdessen den Berufungsschriftsatz versehentlich in die Akte gelegt und an die Berufungsabteilung in S geschickt. Ein solcher Fehler sei ihr noch nicht vorgekommen. Ergänzend hierzu hat die Bevollmächtigte eine eidesstattliche Versicherung vom 04.08.2022 von Frau S vorgelegt, die diesen Ablauf bestätigt. Hierauf wird Bezug genommen (S. 50 Senatsakte).
Der Kläger beantragt,
wegen der versäumten Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 24.03.2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 04.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab Antragstellung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung als unzulässig zu verwerfen.
Ein entschuldbares Büroversehen liege nach ihrer Auffassung nicht vor. Insbesondere habe nicht konkret dargelegt werden können, welche organisatorischen Vorkehrungen hinsichtlich der Büroorganisation, hier auch im Fall von Vertretungen für Kolleginnen/Kollegen, getroffen gewesen seien und ob und ggf. in welcher Form zumindest stichprobenartige Kontrollen vorgenommen würden. Vielmehr sei sogar dargelegt worden, dass eine Überwachung der fristgerechten Übersendung der Berufungsschrift nicht stattfinde und schlicht darauf verwiesen worden, dass dies dem Aufgabenbereich des Sekretariats zufalle.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung am 17.11.2022 in Abwesenheit der Beklagten über den Rechtsstreit entscheiden, da...