Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Erfüllungsfiktion. Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers gegenüber dem Sozialhilfeträger. Sozialhilfe. Anspruch auf Ermessensentscheidung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12. Kenntnis von der Leistungspflicht. sozialgerichtliches Verfahren. keine Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers bei isolierter Anfechtungsklage gegen Aufhebungsbescheid
Leitsatz (amtlich)
1. Die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB X setzt einen Erstattungsanspruch und damit voraus, dass feststeht, dass ein anderer Leistungsträger gegenüber dem leistenden Träger erstattungspflichtig ist; daran fehlt es, wenn der Leistungsempfänger gegen den anderen Leistungsträger allenfalls einen Anspruch auf Ermessensentscheidung hat.
2. Der Sozialhilfeträger muss sich im Erstattungsverhältnis gemäß § 105 Abs 3 SGB X die Kenntnis anderer Träger nicht zurechnen lassen, auch wenn im Leistungsverhältnis zum Leistungsberechtigten eine Zurechnung zu erfolgen hätte.
3. Wendet sich ein Kläger mit der isolierten Anfechtungsklage gegen einen Aufhebungsbescheid eines Leistungsträgers, kommt eine Verurteilung eines anderen Leistungsträgers nach § 75 Abs 5 SGG nicht in Betracht.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers zu 1 wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 21. April 2017 abgeändert.
Der Bescheid des Beklagten vom 16. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Mai 2012 wird aufgehoben, soweit darin die Bewilligung von Arbeitslosengeld II für den Kläger zu 1 ab 1. April 2012 aufgehoben worden ist.
Die Berufungen der Kläger zu 2 bis 5 gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 21. April 2017 werden zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 1 in beiden Rechtszügen. Außergerichtliche Kosten der Kläger zu 2 bis 5 sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Rücknahme der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für April und Mai 2012.
Der Kläger zu 1 ist 1965 in Algerien geboren. Die Klägerin zu 2 ist die 1975 in Algerien geborene Ehefrau des Klägers zu 1. Die Kläger zu 3 bis 5 sind die 2000, 2002 bzw. 2005 geborenen Kinder der Kläger zu 1 und 2. Alle Kläger sind Staatsangehörige der Italienischen Republik.
Am 1. Dezember 2011 meldete sich der Kläger zu 1 bei der Stadt R. mit Wirkung zum 24. November 2011 an. Er sprach zudem am 1. Dezember 2011 bei dem Beklagten vor, beantragte Leistungen nach dem SGB II und gab an, aus Italien eingereist zu sein. Die Kläger zu 2 bis 5 seien noch in Italien, wollten aber auch “irgendwann„ nachkommen.
Der Beklagte bewilligte dem Kläger zu 1 mit Bescheid vom 5. Dezember 2011 Leistungen für die Zeit vom 1. Dezember 2011 bis zum 31. Mai 2012 und zwar für Dezember 2011 in Höhe von 328,00 € sowie für Januar bis Mai 2012 in Höhe von monatlich 337,00 € (jeweils Regelbedarf).
Mit Bescheid vom 23. Dezember 2011 sicherte der Beklagte gegenüber dem Kläger zu 1 zu, die Kosten einer Wohnung in der A.straße .. im Rahmen der für den Landkreis R. geltenden Mietobergrenze zu übernehmen. Diese Kosten würden solange als Bedarf anerkannt, solange er einen entsprechenden Anspruch auf SGB II-Leistungen habe. Der Beklagte gewährte dem Kläger zudem ein Darlehen für die Mietkaution in Höhe von 1.800,00 Euro (weiterer Bescheid vom 23. Dezember 2011). Der Kläger bezog diese Wohnung nicht.
Im Januar 2012 reisten die Kläger zu 2 bis 5 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit Bescheid vom 17. Januar 2012 verfügte die Stadt R. die Einweisung der Kläger in eine Wohnung in R. vom 19. Januar 2012 bis zum 19. Juli 2012 zur Vermeidung von Obdachlosigkeit gegen eine Nutzungsentschädigung in Höhe von 256,40 Euro monatlich. Am 19. Januar 2012 meldeten sich alle Kläger bei der Stadt R. mit Einzugsdatum 21. Januar 2012 an. Mit Bescheid vom 24. Januar 2012 gewährte der Beklagte den Klägern einen Betrag von 2.689,00 Euro für die Erstausstattung mit Haushaltsgeräten.
Mit Bescheid vom 27. Januar 2012 änderte der Beklagte seinen Bescheid vom 5. Dezember 2011 und bewilligte auch den Klägern zu 2 bis 5 Leistungen und zwar für die Zeit vom 19. Januar bis 31. Mai 2012. Mit Bescheid vom 31. Januar 2012 änderte der Beklagte seine Bewilligung aus dem Bescheid vom 27. Januar 2012 und bewilligte dem Kläger zu 1 Leistungen für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Mai 2012 sowie den Klägern zu 2 bis 5 Leistungen für die Zeit vom 19. Januar bis zum 31. Mai 2012. Unter anderem wurden den Klägern Leistungen für April und Mai 2012 bewilligt und zwar dem Kläger zu 1 monatlich 376,50 Euro, der Klägerin zu 2 monatlich 376,49 Euro sowie den Klägern zu 3 bis 4 monatlich 290,49 Euro pro Person.
Mit Bescheid vom 16. März 2012 hob der Beklagte - adressiert an den Kläger zu 1 - die Bewillig...