Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Impfschaden. Epilepsie. ursächlicher Zusammenhang. Krampfanfälle nach einer Poliomyelitis-Schluckimpfung. Zeitfenster von 14 Tagen für das Auftreten von Anfällen. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Zugunstenverfahren. Anwendung des zum Zeitpunkt der Bescheidung geltenden Rechts. Prüfung aller seither erfolgten Änderungen der Sach- und Rechtslage. systemgerechte Korrektur der AHP 1983 bei späteren neuen medizinischen Erkenntnissen. rückwirkende Änderung der Kausalitätsbewertungen. sozialgerichtliches Verfahren. Parteivernehmung kein Mittel der Sachaufklärung
Orientierungssatz
1. Über den Umweg eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB 10 kann nicht ohne Weiteres die Anwendung einer älteren - für den Betroffenen - günstigeren Rechtslage herbeigeführt werden. Denn bei Erlass eines Neubescheides ist nicht nur die Sach- und Rechtslage bei Erteilung des früheren, gemäß § 44 SGB 10 aufgehobenen Bescheides zu berücksichtigen, sondern auch alle seither eingetretenen Änderungen, die sich im Falle einer richtigen Verwaltungsentscheidung auf den Betroffenen ausgewirkt hätten.
2. Die zum Zeitpunkt des Bescheids über die Anerkennung eines Impfschadens anwendbaren Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (hier AHP 1983) sind systemgerecht zu korrigieren, wenn sich herausstellt, dass diese nicht mehr dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen (vgl BSG vom 1.9.1999 - B 9 V 25/98 R = SozR 3-3100 § 30 Nr 22 und vom 21.10.1998 - B 9 SB 46/98 B = SozR 3-3870 § 3 Nr 8).
3. Insoweit hat klinisch-wissenschaftlich begründeter Anlass bestanden, das Zeitfenster für impfbedingte Krampfanfälle nach einer Poliomyelitis-Schluckimpfung rückwirkend auf realistische maximal 14 Tage einzuengen.
4. Die Parteivernehmung (hier der Eltern) stellt im sozialgerichtlichen Verfahren kein Mittel der Sachaufklärung dar, mit dem ein Vollbeweis für eine behauptete Tatsache erbracht werden könnte.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer Epilepsie, einer Imbezillität und einer motorischen Störung als Folge einer am 4. April 1990 durchgeführten Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis sowie die Gewährung von Grundrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 100 im Wege des Zugunstenverfahrens streitig.
Die 1989 geborene Klägerin wurde am 4. April 1990 von ihrem Kinder- und Praktischen Arzt Dr. E. in Form einer Injektion von Diphterie-Tetanus-Impfstoff und einer Schluckimpfung gegen Poliomyelitis geimpft. Am 27. April 1990 stellte sie sich erneut bei Dr. E. wegen “walzenförmiger Resistenz im rechten Unterbauch bei Schreiattacken, Nacken endgradig eingeschränkt beweglich sowie Zucken am ganzen Körper„ vor (vgl. Bl. 122 SG-Akte S 12 VI 2059/95), wurde von diesem noch am selben Tag in die Kinderklinik des St. Krankenhauses Pf. eingewiesen, wo sie bis zum 7. Mai 1990 behandelt wurde. Im Aufnahmebefund wurde vermerkt, die Klägerin sei wie auch ihr zweijähriger Bruder seit zwei Tagen mit Husten erkältet, das Schreien verstärke sich attackenweise, sie zucke dabei wie als Schreireaktion. Unter der Rubrik “Nervensystem„ wurde notiert, dass sich die Klägerin in vollem Bewusstsein bei normalem Muskeltonus befände, das Kind könne den Kopf heben, die Spontanbewegungen seien koordiniert bei normalem Reflexverhalten, die Hirnnerven ohne Befund (vgl. Bl. 111 SG-Akte
S 12 VI 2059/95). Die Mutter habe berichtet, dass die Klägerin seit zwei Tagen mit Husten erkältet sei und dabei hohes Fieber habe. Im Entlassungsbericht wurde als Diagnose “Ausschluss einer Invagination (Darmverschluss bei Kleinkindern), Otits media (akute Mittelohrentzündung), hochfieberhafter Infekt der oberen Luftwege„ gestellt, das Kind habe an 4 Tagen an einer heftigen Diarrhoe (Durchfall) gelitten, bei einem Rezidiv der Durchfälle sei dann das Rotavirus-Antigen positiv gewesen (vgl. Bl. 131 SG-Akte S 12 VI 2059/95), ein cerebraler Krampfanfall habe imponiert (vgl. Bl. 108 SG-Akte S 12 VI 2059/95). Bei dem Entlassungsbefund wurde ausgeführt, nunmehr sei der Allgemeinzustand gut, das Kind sei blass, aber munter, an Reaktion und Motorik keine Auffälligkeit oder Seitendifferenz (vgl. Bl. 115 SG-Akte S 12 VI 2059/95).
Im Anschluss daran wurde die Klägerin im Kinderzentrum M. am 1. und 20. Juni und am 4. Juli 1990 ambulant wegen eines zerebralen Anfallsleidens (Myoklonien, Verdacht auf BNS-Anfälle) sowie leichter statomotorischer Retardierung behandelt. Eine weitere stationäre Aufnahme erfolgte vom 13. bis 19. Juni 1990 in der F.-Klinik F. sowie in der Kinderklinik der Universität H. vom 5. bis 26. Juli 1990. Dort wurde eine Epilepsie mit BNS-Anfällen sowie eine psy...