Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. HIV-Infektion bei einem normal funktionierenden Immunsystem ohne erhöhte Infektanfälligkeit. rentenrechtliche Relevanz psychischer Erkrankungen. Diagnostik einer weiteren psychischen Störung bei andauernder Alkoholeinwirkung
Leitsatz (amtlich)
Der erforderliche Vollbeweis des Eintritts des Leistungsfalls einer Erwerbsminderungsrente ist im Hinblick auf das Vorliegen einer HIV-Infektion nicht erbracht, wenn diese soweit medikamentös unter Kontrolle ist, dass von einem normal funktionierenden Immunsystem ohne erhöhte Infektanfälligkeit auszugehen ist.
Orientierungssatz
1. Psychische Erkrankungen sind erst dann von rentenrechtlicher Relevanz, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe überwinden kann (vgl BSG vom 12.9.1990 - 5 RJ 88/89 sowie vom 29.3.2006 - B 13 RJ 31/05 R = BSGE 96, 147 = SozR 4-2600 § 102 Nr 2 und LSG Stuttgart vom 27.4.2016 - L 5 R 459/15 sowie vom 14.3.2018 - L 5 R 1863/17).
2. Zu den besonderen Schwierigkeiten der Diagnostik einer weiteren psychischen Störung bei andauernder Alkoholeinwirkung.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 16.05.2018 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.
Der 1966 geborene Kläger, der den Beruf eines Landwirtschaftsgehilfen erlernt und sich zum staatlich geprüften Wirtschafter für Landbau weitergebildet hat, war letztmalig im März 2012 als Produktionshelfer bei einer Zeitarbeitsfirma tätig (Bl. 17 VA ärztlicher Teil). Im Reha-Entlassungsbericht vom 26.11.2012 über die auf Veranlassung der Beklagten im Oktober und November 2012 durchgeführte Reha-Maßnahme in der Reha-Klinik K. (Bl. M1 abgeschlossene VA und M7 VA ärztlicher Teil) wurden Anpassungsstörungen, eine Panikstörung sowie eine nicht näher bezeichnete HIV-Krankheit diagnostiziert und ein Leistungsvermögen von 3 bis unter 6 Stunden für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes angenommen. Die Beklagte bewilligte daraufhin dem Kläger eine befristete Erwerbsminderungsrente für die Zeit vom 01.09.2012 bis 31.12.2015. Für den Kläger ist seit ca. 2013 (Bl. 31 ärztlicher Teil) eine Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt für die Geltendmachung von Ansprüchen auf Rente, Sozialhilfe, Unterhalt, Pflegeversicherung, für die Gesundheitsfürsorge, für den Schriftwechsel mit Ämtern, Behörden und Dienststellen und für die Vermögensvorsorge einschließlich Wohnungsangelegenheiten bestellt (Bl. 50 SG-Akte).
Auf seinen Antrag vom 18.08.2015 auf Weitergewährung der befristeten Rente wegen Erwerbsminderung über den 31.12.2015 hinaus (Bl. 3 VA) veranlasste die Beklagte eine Begutachtung durch die Fachärztin für Psychiatrie M.. Diese diagnostizierte in ihrem Gutachten vom 11.12.2015, beruhend auf einer ambulanten Untersuchung am 02.12.2015 (Bl. 29 VA ärztlicher Teil), eine Panikstörung und eine HIV-Krankheit. Der Kläger könne leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes überwiegend im Stehen, im Gehen und im Sitzen in Tages-, Früh- und Spätschicht 6 Stunden und mehr arbeitstäglich ausüben. Die Gutachterin empfahl Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Mit Bescheid vom 29.12.2015 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag auf Weiterzahlung der Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit ab 01.01.2016 ab, da die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen würden (Bl. 51 VA) und wies den hiergegen erhobenen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13.05.2016 (Bl. 41 VA RMG) aus denselben Gründen zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 15.06.2016 Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben, mit der sein Begehren weiterverfolgt hat. Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen schriftlich einvernommen. Der Internist und Hämatoonkologe D., zugleich Leiter des HIV-Schwerpunktes im Medizinischen Versorgungszentrum K., hat unter dem 22.11.2016 (Bl. 40 ff. SG-Akte) über die regelmäßige ambulante Betreuung der HIV-Infektion des Klägers seit April 2007 berichtet. Unter der medikamentösen Therapie sei kein HI-Virus nachweisbar und das Immunsystem normal, was bedeute, dass nur eine sehr geringe Infektiosität und keine erhöhte Infektanfälligkeit bestehe. Die Neurologin und Psychiaterin Dr. T. hat gleichfalls unter dem 22.11.2016 (Bl. 47 SG-Akte) über eine beim Kläger bestehende Alkoholabhängigkeit - der Kläger gebe einen Alkoholkonsum von 10 Flaschen Bier am Tag an - und eine Angststörung berichtet, aufgrund derer dieser nur noch in der Lage sei, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in einem zeitlichen Umfang von unter 6 Stunden zu verrichten.
Das SG hat daraufhin von Amts wegen eine ...