Entscheidungsstichwort (Thema)

Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Verwertbarkeit eines Gutachtens bei langer Dauer zwischen Untersuchung und Abfassung des Gutachtens

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Zeitraum von nahezu 6 Monaten zwischen der Untersuchung des Klägers und der Erstellung des neurologisch-psychiatrischen Gutachtens steht der Verwertung des Gutachtens im Einzelfall nicht entgegen, wenn aufgrund besonderer Umstände davon ausgegangen werden kann, dass sich der Sachverständige bei der Abfassung des Gutachtens noch genau an die Person des Untersuchten erinnern konnte. Die hierfür maßgeblichen Umstände können sich aus dem Gerichtsverfahren selbst ergeben (hier: bejaht aufgrund eines vor der Abfassung des Gutachtens gestellten erfolglosen Befangenheitsantrags gegen den Gutachter).

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 10.05.2019 wird auf die Berufung der Beklagten aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente hat.

Der in S. geborene und in K. aufgewachsene Kläger lebt seit seinem Zuzug im Jahre 1991 durchgehend in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist anerkannter Spätaussiedler und hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Eine Berufsausbildung hat er nicht absolviert. Zuletzt war er als Staplerfahrer, Kommissionierer und Packer bis zum Jahre 2014 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Seitdem besteht Arbeitsunfähigkeit. Vom 19.11.2015 bis zum 18.05.2017 bezog er Arbeitslosengeld I von der Agentur für Arbeit. Ein Grad der Behinderung von 60 ist anerkannt.

Am 03.03.2017 stellte er bei der DRV einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung und stützte diesen auf die Gesundheitsstörungen Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Bandscheibenvorfall, Schlaganfall, Hirndurchblutungs-störungen, Gleichgewichtsstörungen, Depression, Bluthochdruck und Herzkrankheit. Seinem Rentenantrag legte er zahlreiche medizinische Befundunterlagen bei.

Zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts wurde durch die DRV ein Gutachten auf internistischem Fachgebiet durch Dr. B. erstellt. Bei der Begutachtung am 03.04.2017 gelangte der Gutachter zu folgenden Gesundheitsstörungen:

1. Rezidivierende depressive Störung, derzeit mittelgradige Episode mit Somatisierungsneigung.

2. Koronare 3-Gefäßerkrankung, Zustand nach PTCA mit DES-Implantation 11/2015, kein Hinweis auf Progress.

3. Periphere arterielle Verschlusskrankheit beider Beine ohne interventionspflichtige Stenosen.

4. Degeneratives LWS- und HWS-Syndrom ohne wesentliche Funktionseinschränkung, keine radikuläre Symptomatik.

5. Medikamentös unzureichend eingestellter Bluthochdruck.

Zusammenfassend führte der Gutachter aus, der Kläger könne leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne besonderen Zeitdruck, ohne Nachtschichtarbeit, ohne Heben, Tragen und Bewegen von schweren Lasten, ohne einseitige Körperhaltung, ohne häufiges Bücken sechs Stunden und mehr verrichten. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Staplerfahrer und Kommissionierer könne 6 Stunden und mehr ausgeübt werden. Empfehlenswert seien LTA-Maßnahmen. Eine Rückkehr an den letzten Arbeitsplatz erscheine, auch wenn das Arbeitsverhältnis formal noch bestehe, nicht mehr möglich, weil ein erheblicher Arbeitsplatzkonflikt bestehe.

Mit Bescheid vom 06.04.2017 wurde die beantragte Rente abgelehnt. Hiergegen legte der Kläger am 28.04.2017 Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, seine Erkrankungen und die damit zusammenhängenden Einschränkungen seien unzureichend bewertet worden. Er befinde sich seit dem 06.04.2017 in der psychiatrischen K. D. Eine erneute Überprüfung sei angezeigt.

Nachdem die DRV den Bericht über den stationären Aufenthalt des Klägers in der Zeit vom 06.04.2017 bis zum 10.05.2017 in der K. D. beigezogen hatte, erstellte die Ärztin für Psychiatrie Dr. R. im Auftrag der DRV ein psychiatrisches Gutachten. Bei ihrer Untersuchung des Klägers am 12.07.2017 gelangte sie zu folgenden Diagnosen:

1. Rezidivierende depressive Störung, jetzt leichtgradige Episode

2. Somatisierungsstörung.

Abschließend führte die Gutachterin aus, sowohl die letzte berufliche Tätigkeit als Kommissionierer/ Arbeiter als auch eine andere leichte bis mittelschwere Tätigkeit sei aufgrund der psychiatrischen Diagnosen für mindestens sechs Stunden täglich zumutbar.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.09.2017 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Deswegen hat der Kläger am 17.10.2017 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben, mit welcher er sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat er ausgeführt, aufgrund seiner zahlreichen Gesundheitsstörungen sei er in seiner Leistungsfähigkeit sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht vollständig eingeschränkt. Er sei nicht mehr in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Diese eingeschränkt...

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