Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Berufungsrücknahmefiktion. Betreibensaufforderung bei fehlender Berufungsbegründung. anschließendes Weiterbetreiben des Rechtsstreits. Einzelfallbeurteilung. Betreibensaufforderung als Maßstab

 

Leitsatz (amtlich)

Eine fehlende Berufungsbegründung kann Anlass für eine Betreibensaufforderung und Gegenstand einer solcher sein.

 

Orientierungssatz

Ob das weitere Verhalten des Berufungsklägers nach der Betreibensaufforderung als Betreiben zu qualifizieren ist, ist anhand der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen (vgl BVerwG vom 7.7.2005 - 10 BN 1/05; OVG Greifswald vom 30.9.2004 - 4 K 20/03 = NVwZ-RR 2005, 596). Den Maßstab bildet insofern insbesondere die Betreibensaufforderung selbst (vgl BVerwG vom 7.7.2005 - 10 BN 1/05; OVG Greifswald vom 30.9.2004 - 4 K 20/03 aaO). Je konkreter die Betreibensaufforderung war, desto konkreter muss der Berufungskläger vortragen. Schweigen stellt nie Betreiben dar (vgl VGH Stuttgart vom 25.10.1999 - 6 S 1870/99 = DÖV 2000, 210).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 28.11.2019; Aktenzeichen B 7 AY 2/18 B)

 

Tenor

Es wird festgestellt, dass die Berufungsverfahren L 7 AY 1203/17 und L 7 AY 1966/17 durch Rücknahme der Berufungen erledigt sind.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die verbundenen Rechtsstreite betreffen die Frage, ob die Berufungen der Klägerin in zwei Verfahren als zurückgenommen gelten.

Die Klägerin hat am 13. Juli 2015 beim Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage gegen Bescheide der Beklagten vom 28. Oktober 2014 (Bewilligung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz [AsylbLG] für die Zeit vom 25. Juli bis 30. November 2014) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2015 erhoben. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 23. Februar 2017 (S 7 AY 3807/15) abgewiesen. Dieses Urteil ist der Klägerin am 2. März 2017 zugestellt worden.

Beim SG wurde zudem seit dem 11. Januar 2017 unter dem Aktenzeichen S 7 AY 221/17 ein Klageverfahren der Klägerin gegen einen Bescheid der Beklagten vom 22. Dezember 2015 in der Gestalt eines Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 2017 wegen der Übernahme von Fensterreparaturkosten in Höhe von 1.012,69 € geführt. Das SG hat diese Klage mit Gerichtsbescheid vom 20. März 2017 abgewiesen. Dieser Gerichtsbescheid ist der Klägerin am 23. März 2017 zugestellt worden.

Am 27. März 2017 hat die Klägerin gegen das Urteil vom 23. Februar 2017 Berufung eingelegt (L 7 AY 1203/17). Sie hat angekündigt, dass eine entsprechende Begründung nachgereicht werde. Mit Schreiben vom 29. März und 18. Mai 2017 ist die Klägerin jeweils zur Vorlage der Berufungsbegründung binnen vier Wochen aufgefordert worden. Am 19. Juni 2017 hat die Klägerin um Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung bis zum 20. Juli 2017 gebeten.

Am 24. April 2017, einem Montag, hat die Klägerin Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 20. März 2017 eingelegt (L 7 AY 1966/17). Mit Schreiben vom 18. Mai 2017 ist die Klägerin zur Vorlage der Berufungsbegründung binnen vier Wochen aufgefordert worden. Am 19. Juni 2017 hat die Klägerin um Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung bis zum 20. Juli 2017 gebeten.

Mit Schreiben vom 24. Juli 2017 hat der Berichterstatter die Klägerin in beiden Berufungsverfahren darauf hingewiesen, dass sie ihre Berufungen bislang nicht begründet habe. Sollte dies binnen drei Monaten nach Zugang dieses Schreibens nicht substantiiert geschehen, müsste das Gericht davon ausgehen, dass sie an der Fortführung der Rechtsstreite kein Interesse habe. In diesem Falle würden die Berufungen als zurückgenommen gelten. Diese Schreiben sind der Klägerin am 26. Juli 2017 zugestellt worden.

Mit Beschlüssen vom 27. Oktober 2017 hat der Senat durch den Berichterstatter festgestellt, dass die Berufungen der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 23. Februar 2017 und gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 20. März 2017 als zurückgenommen gelten. Nach Hinausgabe der Beschlüsse zur Post gingen am 27. Oktober 2017 um 20.48 Uhr und 20.49 Uhr per Fax beim Senat Berufungsbegründungen der Klägerin in den Verfahren L 7 AY 1966/17 und L 7 AY 1203/17 ein.

Am 7. November 2017 hat die Klägerin die “Wiedereinsetzung der Verfahren„ L 7 AY 1966/17 und L 7 AY 1203/17 beantragt. Diese Anträge sind unter den Aktenzeichen L 7 AY 4220/17 (bzgl. des Verfahrens L 7 AY 1203/17) und L 7 AY 4221/17 (bzgl. des Verfahrens L 7 AY 1966/17) registriert worden. Durch Beschluss des Senats vom 1. Februar 2018 sind sie unter dem Aktenzeichen L 7 AY 4220/17 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden worden.

Die Klägerin hat vorgebracht, vier Wochen vor Fristablauf bei der zuständigen Geschäftsstelle angerufen und sich nach den Fristen zur Einreichung der Begründungen erkundigt zu haben. Ihre Mutter sei bei dem Telefonat dabei gewesen. Es sei ihr mitgeteilt worden, dass die Fristen für beide Verfahren am 27. Oktober 2017 abliefen. Sie habe die Berufungsbegründungen am 26. Oktober 2017 per Fax gesendet. Allerdings habe sie keinen...

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