Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufskrankheit. haftungsbegründende Kausalität. besondere Ansteckungsgefahr. Bewertungsmaßstab. Nachweis. Infektionskrankheit. Krankenschwester
Leitsatz (amtlich)
Eine Erkrankung an Lungentuberkulose ist dann wahrscheinlich auf berufliche Einflüsse zurückzuführen und somit als Berufskrankheit nach Nr 3101 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen, wenn eine Krankenschwester auf der Infektionsabteilung des Bereichs Innere Medizin eines Krankenhauses gearbeitet und dort einen an Tuberkulose erkrankten Patienten intensiv gepflegt hat.
Orientierungssatz
Für die Bewertung der Ansteckungsgefahr sind die einschlägigen medizinischwissenschaftlichen Erkenntnisse ausschlaggebend. Danach ist bei Tuberkuloseerkrankungen zwischen Primärinfektion (Erstinfektion), Reinfektion (Wiederinfektion), Superinfektion und Exacerbation zu unterscheiden. Für die Erstinfektion genügen wenige Bakterien und kurze Kontaktzeiten, wie etwa bei einem einmaligen Gespräch. Gleiches gilt für die Wiederinfektion, von der man spricht, wenn sich der Patient nach mehrjähriger krankheitsfreier Zeit und negativer Tuberkulinprobe erneut mit Tuberkelbakterien ansteckt. Im Unterschied zu Erst- und Wiederinfektion setzt die Superinfektion, worunter die Neuinfektion bei noch erhaltener Tuberkulin-Allergie zu verstehen ist, eine länger dauernde Exposition mit Gegebenheit für massive Keimaufnahme voraus; der Kontakt mit einem Patienten, bei dem Tuberkelbakterien nur kulturell oder unter Behandlung nur noch kulturell nachweisbar sind, genügt hierfür nicht. Exacerbation schließlich bedeutet das Wiederaufflackern einer alten Tuberkulose. Sie ist unabhängig von erneuter Infektionsgefährdung und gilt als schicksalmäßiger Ablauf.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Anerkennung und Entschädigung einer (mittlerweile auskurierten) Lungentuberkulose als Berufskrankheit.
Die 1972 geborene Klägerin, geb. H. , arbeitete seit April 1993 als Krankenschwester am Caritas-Krankenhaus Bad M., wo sie den Beruf von April 1990 bis April 1993 erlernt hatte; zuvor hatte sie von September 1989 bis April 1990 ein Pflegepraktikum beim Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e.V. absolviert. Nachdem im Mai 1995 eine Lungentuberkulose diagnostiziert worden war, wurde die Klägerin zunächst etwa 8 Wochen lang stationär behandelt. Ab Februar 1996 hat sie dann zunächst versuchsweise 5 Stunden täglich und ab Mai 1996 wieder voll gearbeitet. Vom 12. August bis 13. September 1996 begab sich die Klägerin erneut in stationäre Behandlung zu einer Lungenoperation. Danach absolvierte sie ein 4-wöchiges Anschlussheilverfahren, um sodann ihre Arbeit als Krankenschwester wieder aufzunehmen.
Auf die unter dem 22. Mai 1995 erstattete Berufskrankheitenanzeige des Dr. S. vom Caritas-Krankenhaus Bad M., wonach sich die Klägerin bei der Versorgung von Tuberkulosepatienten eine offene Lungentuberkulose zugezogen habe, leitete die Beklagte das Feststellungsverfahren ein. Sie zog ein Vorerkrankungsverzeichnis und Arztberichte bei und befragte die Klägerin sowie deren Arbeitgeber. Die Klägerin gab an, sie sei bei der Krankenpflege auf der Station C4 (Innere Medizin) und in der Infektionsabteilung mit drei tuberkulösen Patienten in Berührung gekommen, und zwar vom 4. August bis 15. November 1994 mit dem Patienten W. Z., vom 2. bis 21. Dezember 1994 mit D.C. und vom 4. Oktober bis 9. November 1994 mit R.S. (Fragebogen vom 10. Juli 1995). Bis zum Ausbruch ihrer Erkrankung seien alle betriebsärztlichen Tuberkulintestungen negativ verlaufen. Dres. A. u. M. L. teilten im Arztbericht vom 14. Juli 1995 mit, sie hätten die Klägerin wegen einer fieberhaften Atemwegsinfektion, die sich dann als Tuberkulose herausgestellt habe, im April und Mai 1995 (Erstvorstellung am 26. April 1995) behandelt. Im Bericht des Caritas-Krankenhauses Bad M. (Prof. Dr. B. u.a.) vom 3. August 1995 heißt es, die Klägerin habe seit Ende März 1995 unter Abgeschlagenheit und Leistungsverlust gelitten, nachdem bereits seit September 1993 rezidivierende Bronchitiden aufgetreten seien. Fieber habe sie erstmals am 20. April 1995 gehabt und den Arzt (bei ca. 40 Grad Fieber) am 26. April 1995 aufgesucht. Ein im März 1995 durchgeführter Tine-Test sei negativ gewesen. Die Klägerin habe in der Infektionsabteilung der Medizinischen Klinik gearbeitet, wo zuletzt im Dezember 1994 mit Mykobakterien infizierte Patienten behandelt worden seien. Das Landratsamt M.-Kreis (Gesundheitsamt) teilte im Schreiben vom 12. September 1995 mit, die Klägerin habe mit drei Tuberkulosepatienten Kontakt gehabt, von denen einer an nicht ansteckender Lymphknoten-Tbc gelitten habe.
Unter dem 21. Oktober 1995 gab die die Beklagte beratende Ärztin Dr. W. (Internistin und Ärztin für Lungen- und Bronchialheilkunde) eine (erste) Stellungnahme ab. Darin heißt es, als mögliche Infektionsquelle komme nur der am 15. Juli 1909 geborene Patient W. Z. in Frage, weil auch eine offene Uro-Tuberkulose, unter d...