Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialversicherungspflicht bzw -freiheit. Physiotherapeutin. Vertrag über freie Mitarbeit mit einer Physiotherapiepraxis. keine Eingliederung in die Praxisorganisation. eigene Abrechnung gegenüber Privatpatienten. abhängige Beschäftigung. selbstständige Tätigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Zum sozialversicherungsrechtlichen Status eines Physiotherapeuten (hier: selbstständig tätig), der nicht in die Organisation der Praxis eingegliedert ist und eigene Abrechnungen gegenüber Privatpatienten vornimmt.

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 20. Oktober 2020 aufgehoben, soweit das Nichtbestehen einer abhängigen Beschäftigung festgestellt worden ist. Insoweit wird die Klage abgewiesen.

Im Übrigen wird die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Bescheide der Beklagten vom 23. April 2019 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 5. Februar 2020 aufgehoben werden und festgestellt wird, dass die Tätigkeit der Beigeladenen zu 1 für den Kläger im Zeitraum vom 13. September 2018 bis 31. Dezember 2021 nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese jeweils selbst tragen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird endgültig auf 5.000,00 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Versicherungspflicht der Beigeladenen zu 1 in der gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung aufgrund deren in den Praxisräumen des Klägers ausgeübten Tätigkeit als Physiotherapeutin im Zeitraum vom 13. September 2018 bis 31. Dezember 2021 streitig.

Der Kläger war bis 31. Dezember 2021 Inhaber der Physiotherapiepraxis „P in E“, R -Straße, E., mit vier Behandlungsräumen mit entsprechender Ausstattung wie Behandlungsliegen, Fangogerät u.a. Er verfügte über eine Zulassung zur Versorgung der in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten mit physiotherapeutischen Leistungen (Krankenkassenzulassung als Heilmittelerbringer) nach § 124 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) und beschäftigte eine Mitarbeiterin auf 450,00 €-Basis und einen festangestellten Mitarbeiter in Teilzeit.

Die Beigeladene zu 1, ausgebildete Physiotherapeutin, wurde bereits vor ihrer Tätigkeit in den Behandlungsräumen des Klägers unter der Bezeichnung „[Beigeladene] Physiotherapie“ mit Anschrift U-Straße, E., „mobil“, also im Rahmen von Hausbesuchen, tätig. Sie verfügte weder über eigene Praxisräume noch über eine Kassenzulassung. Unter der genannten Bezeichnung und Anschrift stellte sie Rechnungen sowohl an den Kläger als auch an Privatpatienten unter Angabe ihrer eigenen Bankverbindung und beschaffte sich Arbeitsmittel, z.B. eine Vibrationsplatte, eine klappbare, mobile Behandlungsliege, Kinesio-Tapes u.a. Eigene Mitarbeiter beschäftigte sie nicht. Zur Alterssicherung leistet sie den Regelbeitrag für Selbständige an die gesetzliche Rentenversicherung.

Unter dem 10. September 2018 schlossen der Kläger und die Beigeladene zu 1 einen vom Kläger entworfenen „Vertrag über eine freie Mitarbeit“ (im Folgenden MV) mit folgendem Inhalt:

1. [Die Beigeladene zu 1] nimmt vom 10.09.2018 an eine Tätigkeit in der Praxis als freie Mitarbeiterin auf.

2. Die freie Mitarbeiterin übernimmt die Terminierung ihrer Patienten beziehungsweise bedient sich für die Terminierung ihrer Patienten kostenpflichtig des Rezeptionspersonals der Praxis. Die freie Mitarbeiterin führt eine eigene Patientenkartei, benutzt ihren eigenen Briefbogen und eigene Visitenkarten und ist im Rahmen der Praxisgegebenheiten berechtigt, eigenes Therapiematerial anzuschaffen und zu nutzen. Die freie Mitarbeiterin bestimmt ihre Tätigkeitszeit in der Praxis beziehungsweise im Rahmen von Hausbesuchen für die Praxis und auch ihre Urlaubsplanung selbst, es erfolgt lediglich eine Abstimmung mit der Praxis im Rahmen der gesonderten Patientenbestellung und der sich daraus ergebenden Belegungsmöglichkeit der Behandlungsräume, die der freien Mitarbeiterin nicht zur alleinigen Nutzung vermietet sind. Um im Interesse beider Parteien eine ordnungsgemäße Patienteneinbestellung sicherzustellen, wird die freie Mitarbeiterin in der Praxis urlaubsbedingte oder in sonstigen Umständen begründete und vorhersehbare Abwesenheitszeiten rechtzeitig zuvor mitteilen.

3. Die freie Mitarbeiterin ist nicht weisungsgebunden und unterliegt nicht den allgemeinen Praxisregelungen. Sie kann Mitarbeiter beschäftigen, für verschiedene Auftraggeber tätig sein und eigene Privatpatienten behandeln.

4. Die Praxis stellt der freien Mitarbeiterin oder deren Mitarbeiter einen für die physiotherapeutische Tätigkeit ausreichend geeigneten Behandlungsraum zur alleinigen Nutzung zur Verfügung. Darüber hinaus gestattet die Praxis der freien Mitarbeiterin oder deren Mitarbeitern die Nutzung der für eine geregelte Tätigkeit erforderlichen Praxisräume, wie insbesondere s...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge