Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen B. Notwendigkeit ständiger Begleitung. Orientierungsfähigkeit von Taubstummen. Verweis auf Stadtpläne im Internet und GPS-Navigation per Smartphone. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Unwirksamkeit der Regelungen zu Nachteilsausgleichen
Leitsatz (amtlich)
Bei Gehörlosen kann nach Abschluss der Gehörlosenschule und einer Ausbildung nicht aufgrund typischer Funktionsbeeinträchtigungen, insbesondere beeinträchtigter Kommunikationsfähigkeit, vom Vorliegen des Merkzeichens B ausgegangen werden. Sofern früh ertaubte, aber des Lesens und Schreibens kundige Gehörlose unbekannte Wege erstmals zurückzulegen haben, können sie im Internet frei zugängliche Stadtpläne und genaue Wegbeschreibungen ebenso nutzen wie aktuell die auf den handelsüblichen Smartphones verfügbaren Navigationsgeräte mit GPS-Peilung, die sogar eine Ortung ermöglichen.
Orientierungssatz
Die in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (juris: VersMedV) getroffenen Regelungen für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche sind - mit Ausnahme des Merkzeichens "Hilflosigkeit" (H) unwirksam, da es insoweit an einer gesetzlichen Verordnungsermächtigung fehlt (vgl LSG Stuttgart vom 9.6.2011 - L 6 SB 6140/09 und vom 9.5.2011 - L 8 SB 2294/10).
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 24. November 2011 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten im Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Merkzeichens “Berechtigung für eine ständige Begleitung„ (B) streitig.
Die 1950 geborene Klägerin ist seit ihrer Kindheit aufgrund einer Miliartuberkulose mit nachfolgender Meningitis taubstumm. Sie besuchte von der ersten bis neunten Klasse die Gehörlosenschule und war seitdem als Hilfsarbeiterin berufstätig (Kündigung 2011).
Das ehemalige Versorgungsamt H. hatte bei der 1950 geborenen Klägerin nach Beiziehung des Befundberichts des Dr. H., Chefarzt am Kinderkrankenhaus Bad F.-J., vom 05.04.1955 (deutliche Schwerhörigkeit) sowie der Ärztlichen Mitteilung des Dr. K. vom 15.05.1964 (nahezu Taubheit durch tuberculitische Meningitis als Kind) und unter Berücksichtigung der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Chirurgen Dr. B., in welcher eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit mit ausgeprägter Sprachstörung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 berücksichtigt worden war, mit Bescheid vom 19.11.1976 (“an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit mit ausgeprägter Sprachstörung„), ergänzt durch den Bescheid vom 08.01.1986 (“Taubheit beidseits„) den GdB mit 100 festgestellt. Ferner hatte das Versorgungsamt das Merkzeichen “Rundfunkgebührenbefreiung„ (RF) sowie mit Bescheid vom 29.01.2002 das Merkzeichen “Gehörlosigkeit„ (Gl) festgestellt.
Am 22.04.2010 beantragte die Klägerin die Feststellung des Merkzeichens B. Das zuständig gewordene Landratsamt H. lehnte den Antrag mit Bescheid vom 28.05.2010 ab und führte zur Begründung aus, zur Mitnahme einer Begleitperson seien schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln in Folge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen seien. Diese Voraussetzung liege bei der Klägerin nicht vor.
Hiergegen legte die Klägerin am 17.06.2010 unter Vorlage des Attestes des Allgemeinmediziners Dr. Sch. vom 09.06.2010 (aufgrund der von Kindheit an bestehenden Taubheit sei der Erfolg der Erlernung einer für das Umfeld verständlichen Sprache sehr mäßig, die Klägerin könne sich in fremdem Umfeld nicht hinreichend verständlich machen, sie benötige bei Entfernung von ihrem angestammten Wohn- und Arbeitsbereich unbedingt die Begleitung ihres ebenfalls taubstummen Ehegatten) Widerspruch ein. Dr. H. führte in ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 02.09.2010 aus, die Klägerin sei bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln nicht regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen. Ferner seien das Merkzeichen B berechtigende Orientierungsstörungen im Erwachsenenalter nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion, beispielsweise einer Sehbehinderung oder geistigen Behinderung gegeben. Anhalt hierfür bestehe bei der Klägerin nicht. Schwierigkeiten mit der sprachlichen Verständigung stellten keine Begründung für die Feststellung des Merkzeichens B dar. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.09.2010 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Widerspruch zurück. Es führte zur Begründung aus, die Klägerin sei trotz ihrer Behinderung durchaus noch in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel überwiegend ohne Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels zu benutzen. Es bestehe ferner auch kein Anhalt, dass die Klägerin zum Ausgleich von Orientierungsstörungen fremde Hilfe benötige. Solche Orientierungsstörungen seien im Erwachsenenalter nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion anzunehmen, was beispielsweise bei einer Sehbehinderung oder ...