Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Gerichtsbescheid. Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Entscheidung des Gerichts bei Verfristung. richtige Entscheidungsform. fehlerhafte öffentliche Zustellung. Nachforschungspflicht des Gerichts. Fristbeginn. Entscheidungsumfang. Entscheidungstenor
Leitsatz (amtlich)
Das Sozialgericht hat über einen Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 105 Abs 2 S 2 SGG auch dann durch Urteil zu entscheiden, wenn es ihn für nicht fristgerecht erachtet (zum unstatthaften Antrag siehe bereits Urteil des erkennenden Senats vom 28.8.2014 - L 13 AS 3162/14 = ZFSH/SGB 2014, 756).
Bevor ein Gericht eine öffentliche Zustellung an den Kläger vornimmt, muss es Nachforschungen anstellen, ob dieser bei demselben Gericht weitere Verfahren betreibt und ob gegebenenfalls bei einem anderen Spruchkörper Erkenntnisse über dessen Aufenthaltsort vorliegen.
Eine fehlerhafte öffentliche Zustellung löst den Lauf der einmonatigen Frist (Lüdtke/Berchtold, SGG; § 105 Rn 15) zur Stellung des Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht aus (vgl BSG vom 24.3.2015 - B 8 SO 73/14 B, Juris).
Dem Senat ist es verwehrt, in der (Haupt-)Sache zu entscheiden, wenn lediglich ein statthafter Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung streitbefangen ist.
Der Senat hat nicht nur den Beschluss des SG aufzuheben, sondern auch festzustellen, dass der Gerichtsbescheid als nicht ergangen gilt, wenn der Antrag auf mündliche Verhandlung rechtzeitig gestellt ist, auch wenn sich diese Rechtsfolge unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut ergibt.
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 9. August 2016 aufgehoben.
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29. September 2015 gilt als nicht ergangen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich mit einer Beschwerde gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe (SG) vom 9. August 2016, mit dem der Antrag des Klägers vom 5. August 2016 auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Anschluss an den ergangenen Gerichtsbescheid vom 29. September 2015 verworfen worden ist, weil der Antrag verfristet sei.
Der Kläger erhielt vom Beklagten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II); mit Bescheid vom 16. Januar 2015 bewilligte er Leistungen vom 16. Dezember 2014 bis 31. Mai 2015 sowie mit Bescheid vom 4. Mai 2015 Leistungen vom 1. Juni 2015 bis 31. Mai 2016. Mit Bescheid vom 19. Februar 2015 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers vom 10. Februar 2015 auf Gewährung eines Mehrbedarfs für Ernährung für die Zeit vom 16. Dezember 2014 bis 31. Mai 2015 ab. Den am 12. März 2015 hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 2015 zurück.
Am 2. Juni 2015 erhob der Kläger unter der Anschrift M.-Straße …, ... R., Klage. Mit gerichtlicher Verfügung vom 3. Juni 2015 forderte das SG den Kläger auf, jede Änderung seiner Anschrift umgehend dem Gericht mitzuteilen. Der zwischenzeitlich beauftragte Prozessbevollmächtigte beantragte, den Ablehnungsbescheid vom 19. Februar 2015 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 4. Mai 2015 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, an den Kläger Leistungen für Mehrbedarf wegen kostenaufwendiger Ernährung gemäß Anweisung des Gerichts zu bewilligen. Nachdem der Kläger seinen Bevollmächtigten das Mandat entzogen hatte, bat der Kläger um Übersendung aller Mitteilungen an seine - eingangs genannte - Anschrift. Mit Beschluss vom 4. August 2015 lehnte das SG die beantragte Prozesskostenhilfe ab. In der diesbezüglichen Postzustellungsurkunde war ausgeführt, dass der Kläger unbekannt verzogen sei. Das SG veranlasste noch eine Behördenauskunft, wonach der Kläger in die R. Föderation verzogen sei. Das SG informierte die Beteiligten über seine Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Dieses Hinweisschreiben wurde dem Kläger öffentlich zugestellt. Mit Beschluss vom 25. August 2015 wurde die öffentliche Zustellung bewilligt und am selben Tag eine Benachrichtigung an der Gerichtstafel ausgehängt (siehe Blatt 109 der SG-Akten). Mit Gerichtsbescheid vom 29. Dezember 2015 wies das SG die Klage auf Gewährung eines monatlichen Mehrbedarfs wegen einer kostenaufwendigen Ernährung für die Zeit von Dezember 2014 bis Mai 2015 als unbegründet ab. In Folge der fehlenden näheren Darlegung des Ausgabeverhaltens des Klägers sei auch nicht erkennbar, inwieweit in der streitigen Zeit ein Mehrbedarf vorliege, welcher den Beschwerdewert des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG in Höhe von 750 € überschreite, weshalb den Beteiligten entweder die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung oder der Antrag auf mündliche Verhandlung zustehe; wegen der weiteren Einzelheiten der Rechtsmittelbelehrung wird auf Blatt 112 der SG-Akte verwiesen. Mit Beschluss des SG vom 30. September 2015 wurde die öffentliche Zustellung bewilligt. Die Benachrichtigung über eine öffentliche Zustellung (siehe Blatt 116 der SG-Akten) wurde am 1. Oktober 2015 a...