Entscheidungsstichwort (Thema)
Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. nachträgliche Einschränkung der Dispositionsbefugnis des Versicherten durch die Krankenkasse
Leitsatz (amtlich)
Die Krankenkasse kann die Dispositionsfreiheit eines Versicherten, der von sich aus einen Reha-Antrag gestellt hatte und der als Rentenantrag gilt, auch nachträglich einschränken. Mit dem entsprechenden bestandskräftigen Bescheid der Krankenkasse verliert der Versicherte die Befugnis, einen späteren Rentenbeginn zu bestimmen.
Normenkette
SGB V § 51 Abs. 1 S. 1; SGB VI § 43 Abs. 1-2, § 99 Abs. 1 S. 1, § 101 Abs. 1, § 116 Abs. 2 Nr. 2
Verfahrensgang
SG Ulm (Gerichtsbescheid vom 29.11.2022; Aktenzeichen S 14 R 774/21) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 29.11.2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen späteren Beginn der der Klägerin bewilligten Erwerbsminderungsrente im Zusammenhang mit der Umdeutung eines Reha-Antrags in einen Rentenantrag.
Die 1957 geborene Klägerin zog Mitte August 1966 aus Italien kommend in das Bundesgebiet zu. Zuletzt war sie vom 01.06.1999 bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit am 24.11.2017 als Justizangestellte u.a. beim Notariat B1 in Teilzeit (19,75 Stunden/Woche) versicherungspflichtig tätig; das Arbeitsverhältnis wurde zum 31.12.2017, nach Angabe der Klägerin durch ihre Kündigung (s. Schreiben der Klägerin an die S1 Klinik B1 vom 28.09.2017), beendet (S. 28 VerwA ÄT). Bis zur Aussteuerung am 26.05.2019 war sie durchgehend arbeitsunfähig erkrankt (S. 86 VerwA ÄT) und bezog vom 01.01.2018 bis 26.05.2019 Krankengeld (S. 35 VerwA) sowie im Anschluss vom 27.05.2019 bis 30.06.2020 Arbeitslosengeld (S. 123 VerwA), wobei im Zeitraum vom 08.01. bis 30.06.2020 erneut Arbeitsunfähigkeit bestand (S. 86 VerwA ÄT). Die Beklagte hatte ihr bereits mit Rentenbescheid vom 19.05.2020 (rückwirkend) Rente wegen voller Erwerbsminderung (bei medizinisch teilweiser Erwerbsminderung) vom 01.06.2018 bis 31.05.2021 bewilligt (dazu noch später), wobei das Befristungsende mit Bescheid vom 06.05.2021 auf den 30.04.2023 verlängert wurde. Seit dem 01.10.2022 bezieht die Klägerin Altersrente für schwerbehinderte Menschen (Bescheid vom 07.12.2022).
Mit Eingang bei der Beklagten am 18.09.2017 beantragte die Klägerin eine stationäre medizinische Rehabilitation (s. dazu auch Schreiben der Klägerin an die Beklagte vom 10.10.2017) und begründete den Antrag mit Arbeitsplatzkonflikten („Mobbing“ seit 2002) sowie mit schmerzenden Händen bei Eingabe von Texten und Daten, Gelenkentzündungen und sehr starken chronischen Kopfschmerzen. Die Beklagte zog ärztliche Befundunterlagen bei (u.a. Befundbericht der M1 vom 09.09.2017: u.a. schmerzhafte Einschränkung der Fingerbeweglichkeit mit zunehmender Fingerdeformierung; „Attest“ der O1 vom 08.11.2017: chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Schlafstörung, Polyarthrose; sie habe der Klägerin geraten, ihre Arbeit als Justizangestellte aufzugeben) und lehnte eine Rehabilitationsmaßnahme zunächst mit Bescheid vom 24.11.2017 mangels Erforderlichkeit - eine ambulante nervenärztliche Behandlung sei ausreichend - ab. Im Widerspruchsverfahren ließ die Beklagte die Klägerin nach Beiziehung der gutachtlichen Stellungnahme der W1 (ärztlicher Dienst der Agentur für Arbeit U1) vom 30.11.2017 (Leistungsvermögen unter drei Stunden täglich, Befürwortung einer Reha-Maßnahme) durch K1 begutachten. Dieser diagnostizierte bei der Klägerin nach Untersuchung Anfang Februar 2018 ein chronisches Schmerzsyndrom bzw. einen atypischen Gesichtsschmerz, differentialdiagnostisch Clusterkopfschmerz, mit zunehmender Häufigkeit und Dauer, eine mittelgradige depressive Episode (teilgebessert schwer), ein chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren, einen unübersichtlichen Schmerzmittelgebrauch, fraglich medikamenteninduziert, sowie eine Polyarthrose. Eine Tätigkeit als Justizangestellte sei der Klägerin nur noch unter drei Stunden täglich möglich, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch drei bis unter sechs Stunden. Der Gutachter empfahl dringend die Durchführung einer stationären Rehabilitation, wobei eine Abschätzung, ob die berufliche Leistungsfähigkeit durch eine solche Maßnahme wesentlich gebessert werden könne, nicht möglich sei.
Vom 14.03. bis 02.05.2018 befand sich die Klägerin in der S2-Klinik in (akut-)stationärer Behandlung, aus der sie (weiter) arbeitsunfähig entlassen wurde. Mit (Abhilfe-)Bescheid vom 19.02.2018 in der Fassung des Bescheids vom 07.05.2018 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine fünfwöchige stationäre Rehabilitation in der S2-Klinik.
In einer Stellungnahme vom 03.07.2018 wies der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) vor dem Hintergrund der seit dem 24.11.2017 bestehenden Arbeitsunfähigkeit der Klägerin d...