Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Versorgungsmedizinische Grundsätze. neue Verordnungsermächtigung. Gesetzesrang des Verordnungstextes in der Übergangszeit. psychische Erkrankung. Antriebsstörung
Leitsatz (amtlich)
1. Ab 1.1.2015 hat der Gesetzgeber mit § 70 Abs 2 SGB 9 eine neue Verordnungsermächtigung unmittelbar in das SGB 9 eingefügt und durch § 159 Abs 7 SGB 9 sich den Verordnungstext zu eigen gemacht, so dass die VG bis zum Inkrafttreten der neuen Verordnung Gesetzescharakter haben.
2. Eine erweiternde Auslagerung der Fälle der Fortbewegungsfähigkeit auf psychische Störungen (hier Antriebsstörung) ist nicht möglich.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 25. Juni 2014 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Die am … 1964 in A./T. geborene Klägerin kam im Alter von 16 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland und war hier zunächst bis 1987 in einem Textilunternehmen und seit 1988 bis zu ihrer krankheitsbedingten Kündigung im Jahr 2008 in einem metallverarbeitenden Betrieb erwerbstätig. Seit 2009 bezieht die Klägerin eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Sie lebt mit ihrem Ehemann und einem ihrer drei Söhne im eigenen Haus mit kleinem Garten (Bl. 53, 54 SG-Akten, Bl. 40 LSG-Akten).
Auf ihren Erstantrag nach § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellte der Beklagte aufgrund einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Schulter-Arm-Syndrom (Teil-GdB 20) und einer Somatisierungsstörung, Kopfschmerz-Syndrom (Teil-GdB 20) mit Bescheid vom 09.06.2010 einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 fest. Den ersten Neufeststellungsantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 07.07.2011 ab, berücksichtigte hierbei jedoch als weitere Funktionsbeeinträchtigung ohne Anhebung des Teil-GdB eine Depression. Aufgrund des zweiten Neufeststellungsantrages holte der Beklagte die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. S. ein, der die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und das Schulter-Arm-Syndrom mit einem Teil-GdB von 20, eine Somatisierungsstörung, Kopfschmerz-Syndrom, Depression, chronisches Schmerz-Syndrom mit einem Teil-GdB von 40 sowie Knorpelschäden am linken Kniegelenk mit einem Teil-GdB von 10 und den Gesamt-GdB mit 50 berücksichtigte. Hierauf stellte der Beklagte mit Bescheid vom 13.06.2012 den GdB mit 50 seit 25.01.2012 fest.
Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 21.06.2012 Widerspruch ein und beantragte zugleich die Feststellung des Merkzeichens G, da die Füße beidseits beim Laufen dick würden und sie keine zwei Kilometer in einer halben Stunde zurücklegen könne. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 09.11.2012 zurück. Mit Bescheid vom 17.01.2013 lehnte der Beklagte die Feststellung des Merkzeichens G ab, nachdem zuvor der Versorgungsarzt Dr. F. in Auswertung der vorgelegten Befundberichte darauf hingewiesen hatte, dass eine Funktionseinbuße des rechten Kniegelenks nicht bestätigt worden sei. Auch hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, ohne diesen zu begründen. Der Beklagte holte bei dem Orthopäden Dr. B. den Befundbericht vom 05.03.2013 ein, der von einer einmaligen Vorstellung der Klägerin am 26.03.2012 berichtete (Zustand nach Innenmeniskus-Teilresektion, Reizerguss linkes Kniegelenk). Die Versorgungsärztin Dr. N. führte in ihrer Stellungnahme aus, dass der GdB von 50 vor allem durch die Funktionseinschränkungen der Psyche begründet werde. Aus den psychischen Gesundheitsstörungen ließen sich aber nicht die Voraussetzungen für das Merkzeichen G ableiten. Die dokumentierten, körperlichen Gesundheitsstörungen des Bewegungsapparates seien angemessen berücksichtigt und bedingten keine Anerkennung des Merkzeichens G. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.04.2013 wies der Beklagte den Widerspruch daher zurück.
Gegen den Widerspruchsbescheid vom 09.11.2012 hat die Klägerin am 15.11.2012, gegen den Widerspruchsbescheid vom 18.04.2013 am 25.04.2013 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben.
Mit Beschluss vom 03.06.2013 hat das SG beide Verfahren unter dem Az.: S 11 SB 3134/12 verbunden.
Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen schriftlich vernommen.
Der Neurologe und Psychiater Dr. B. hat mit Schreiben vom 17.06.2013 mitgeteilt, die Klägerin seit 23.06.2008, letzte Vorstellung am 10.06.2013, zu behandeln. Es bestehe eine depressive Episode schwerer Ausprägung mit somatoformer Symptomatik, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine generalisierte Angststörung, Spannungskopfschmerz vom chronischen Typ, Schulter-Arm-Syndrom beidseits ohne radikuläre Ausfallsymptomatik, Lumboischialgie rechts ohne radikuläre Ausfallsymptomatik, Spondylarthrose in der Lendenwirbelsäule (LWS), Sprunggelenk-Arthrose beidseits sowie Uter...