Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Beitragsbemessung freiwilliger Mitglieder. rückwirkende Anwendung des § 240 Abs 1 S 4 SGB 5 idF vom 11.12.2018. Neufestsetzung der Beiträge bei hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass die beitragspflichtigen Einnahmen des Mitglieds die jeweils anzuwendende Mindestbeitragsbemessungsgrundlage nicht überschreiten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die durch Art 1 Nr 6, Art 13 Abs 1 des GKV-Versichertenentlastungsgesetzes (juris: GKV-VEG) vom 11.12.2018 (BGBl I 2018, 2387, 2393) am 15.12.2018 in Kraft getretene Vorschrift des § 240 Abs 1 S 4 SGB V, wonach die Krankenkasse die Beiträge des freiwilligen Mitglieds für Zeiträume neu festzusetzen hat, für die ihr hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die beitragspflichtigen Einnahmen des Mitglieds die jeweils anzuwendende Mindestbeitragsbemessungsgrundlage nicht überschreiten, entfaltet Rückwirkung und ist in einem laufenden Verfahren nach § 44 SGB X zu beachten.

2. § 6 Abs 5 S 2 der Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler (juris: SzBeitrVfGrs ) (in der im Jahr 2016 geltenden Normfassung) ist mit der Neureglung des § 240 Abs 1 S 4 SGB V nicht vereinbar.

3. Zu hinreichenden Anhaltspunkten im Sinne von § 240 Abs 1 S 4 SGB V bei Einkommenslosigkeit und anschließendem Bezug von SGB II-Leistungen.

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 7. Februar 2019 abgeändert und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 6. März 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juli 2018 verurteilt, den Bescheid vom 15. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. März 2016 zurückzunehmen, soweit darin Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung für den Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis 31. Oktober 2016 auf der Grundlage der Beitragsbemessungsgrenze festgesetzt worden sind, und diese Beiträge auf der Mindestbeitragsbemessungsgrundlage neu festzusetzen. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

Die Beklagte hat ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens um die Festsetzung der Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung für die Zeit vom 20. Januar 2015 bis 31. Oktober 2016.

Der im Jahr 1979 geborene Kläger ist Vater eines im Jahr 2007 geborenen Sohns und seit Mai 2013 geschieden. Er bezog vom 1. September 2014 bis 19. Januar 2015 Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). In dieser Zeit war er bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Vom 20. bis 25. Januar 2015 ruhte der Anspruch auf Arbeitslosengeld wegen einer Sperrzeit. Für die Zeit ab 26. Januar 2015 hob die Bundesagentur für Arbeit die Bewilligung von Arbeitslosengeld auf, da sich der Kläger zu diesem Zeitpunkt abgemeldet hatte. In der Folgezeit bezog der Kläger weder Arbeitslosengeld nach dem SGB III noch Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Er widmete sich in dieser Zeit der Erstellung eines Buchs („Eine grobe Übersicht über den sozio-ökonomischen Übergang von positiven zu negativen Geldmarktzinsen“). Seit dem 1. November 2016 erhält er Arbeitslosengeld II als verlorenen Zuschuss.

Am 12. März 2015 teilte der Kläger der Beklagten mit, er halte „eine Fortsetzung des Vertragsverhältnisses [mit der Bundesagentur für Arbeit] wegen der Verletzung meiner Autonomie für unzumutbar ..., beziehe jetzt gar kein Einkommen mehr und schreibe ein Buch über die Zustände in diesem Land.“ Die Beklagte übersandte dem Kläger am 18. März 2015 das Formular eines Antrags auf Weiterversicherung. Damit beantragte der Kläger am 22. März 2015 seine freiwillige Weiterversicherung bei der Beklagten und gab dabei an, dass er seit dem 20. Januar 2015 arbeits- und einkommenslos ohne Bezug von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosengeld II sei. Unterkunft und Essen erhalte er in Naturalien.

Mit Bescheid vom 24. März 2015 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger seit 20. Januar 2015 freiwillig versichertes Mitglied ohne Krankengeldanspruch sei, und setzte auch im Namen der Pflegekasse für die Zeit ab 20. Januar 2015 unter Berücksichtigung der gesetzlichen Mindestbemessungsgrundlage die Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung des Klägers in Höhe von monatlich 140,81 € (14,9 % von 945,00 €) und zur sozialen Pflegeversicherung in Höhe von monatlich 24,57 € (2,6 % von 945,00 €) fest. Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 27. März 2015 Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, er sei seit dem 20. Januar 2015 vollkommen einkommenslos. In Deutschland überwiege von Verfassungs wegen das Recht auf Privatautonomie. Die Beklagte könne ihm daher nicht einfach nachträglich ab dem 20. Januar 2015 ein Vertragsverhältnis unterschieben. Er sei auf Grund seiner Einkommenssituation auch gar nicht kontrahierungsfähig, da ökonomisch handlungsunfähig. Er habe kein Geld und werde in absehbarer Zeit auch nichts verdienen, da er ein Buch schreibe.

Mit Besch...

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