Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Voraussetzungen für die Gewährung einer Alternativbehandlung bei Krebserkrankung (hier: Protonentherapie). Versicherter in Palliativsituation

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die für die Gewährung einer Alternativbehandlung in grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungskatalogs der GKV bzw nach § 2 Abs 1a SGB V notwendige Voraussetzung der indiziengestützten, nicht ganz fern liegenden Aussicht auf Heilung oder wenigstens spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf darf weder (gänzlich) aufgelöst noch überspannt werden. Das subjektive Empfinden des Versicherten, ggf gestützt durch die Einschätzung oder Empfehlung behandelnder Ärzte oder deren Behandlungserfahrung im Einzelfall, genügt für sich allein regelmäßig nicht. Wirksamkeitsindizien können sich aber auch außerhalb von Studien oder Leitlinien ärztlicher Fachgesellschaften finden, etwa in der wissenschaftlichen Diskussion, Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologischen Überlegungen, deskriptiven Darstellungen, Einzelfallberichten, nicht mit Studien belegten Meinungen anerkannter Experten und Berichten von Expertenkomitees und Konsensuskonferenzen (vgl BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R = BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4) oder in Verlaufsbeobachtungen, unterstützt durch Parallelbeobachtungen im Rahmen von Tierversuchen und untermauert durch wissenschaftliche Erklärungsmodelle (vgl BSG vom 2.9.2014 - B 1 KR 4/13 R = SozR 4-2500 § 18 Nr 9).

2. Der nicht ganz entfernt liegende "Behandlungserfolg" der Alternativbehandlung muss auch bei Versicherten in Palliativsituation keinen kurativen Behandlungserfolg in dem Sinne darstellen, dass die nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung als Wiederherstellung der Gesundheit (restitutio ad integrum) besteht (vgl LSG Stuttgart vom 22.02.2017 - L 5 KR 1653/15 -, in juris).

3. Zur (palliativen) Krebsbehandlung durch Protonentherapie (hier: Klatskin-Tumor).

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 21.03.2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Erstattung der Kosten für eine Krebsbehandlung (Protonentherapie).

Der Kläger ist der Witwer der 1958 geborenen U. J. (im Folgenden: Versicherte); die Versicherte war bei der Beklagten (bzw. ihrer Rechtsvorgängerin - G. E. - im Folgenden nur: Beklagte) gesetzlich krankenversichert. Der Kläger hatte zur Zeit des Todes der Versicherten mit dieser in einem gemeinsamen Haushalt gelebt.

Im Juli 2009 wurde bei der Versicherten ein Klatskin-Tumor mit Lebermetastasen diagnostiziert. Die operative Entfernung des Tumors bzw. der Metastasen war nicht möglich. Die Versicherte wurde zunächst im St. Sch.-G. konservativ und von September bis November 2009 mit 3 Zyklen Chemotherapie palliativ behandelt.

Anfang November 2009 beantragte die Versicherte die Gewährung bzw. Übernahme der Kosten einer Protonentherapie im R. P. Th. C., M. (im Folgenden: R.).

Das R. ist - ohne rechtliche Verselbständigung - der Ch. Klinik Dr. R., M., angegliedert; die Behandlungsräume des R. befinden sich in dieser Klinik. Die Ch. Klinik Dr. R. ist mit den Fachrichtungen Chirurgie, Herzchirurgie und Strahlentherapie in den Krankenhausplan des Freistaats B. aufgenommen. Krankenhausträger (und damit auch Träger des dem Krankenhaus angegliederten R.) ist die Ch. Klinik Dr. R. GmbH und Co. KG (R.-Träger). Dem R. ist ein Gästehaus angeschlossen, in dem die Patienten des R. übernachten können. Die Ärzte, die im R. Leistungen der Protonentherapie erbringen, nehmen an der vertragsärztlichen Versorgung nicht teil.

Die Versicherte legte Arztberichte und die Bescheinigung des R. vom 03.11.2009 vor. Darin ist ausgeführt, der Tumor sei nicht operabel und bedürfe umgehend einer Protonentherapie. Mit dieser Behandlungsmethode könne der Tumor hochdosiert bestrahlt werden, während in der (gesunden) Umgebung des Tumors nur wenig Strahlung (ein Sechstel der hoch anzusetzenden Tumordosis) deponiert werde. Das betreffe insbesondere die Leber, den Pankreas, den Dünndarm und den Magen. Die Protonentherapie sei daher sehr schonend, aber hoch effektiv, um den Tumor zu behandeln und die Funktionsstörung im Bereich der Leberpforte zu beheben. Es werde um Kostenübernahme und nächstmögliche Bearbeitung gebeten. Der Bescheinigung war ein Kostenvoranschlag des R.-Trägers vom 20.10.2009 über Gesamtkosten i.H.v. 18.978,45 € beigefügt. Der Kostenvoranschlag hat “ärztliche Leistungen im Rahmen der strahlentherapeutischen Behandlung inklusive Diagnostik„ zum Gegenstand; es handele sich um eine Pauschale (inklusive Mehrwertsteuer).

Die Beklagte befragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK). Im MDK-Gutachten (nach Aktenlage) vom 09.12.2009 führte Dr. F. aus, bei der Versicherten (Diagnosen: Klatskin-Tumor mit histologisch gesicherter Lebermetastasierung ≪Gallenbett/Lobus caudatus≫ Typ 3-B nach Bismuth ED 07/09, Z.n. nach Stenteinlage linker Duc...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge