Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Erstattungsanspruch des vorläufig leistenden Sozialhilfeträgers gegen den zur Leistung verpflichteten Sozialhilfeträger. örtliche Zuständigkeit. ambulant betreutes Wohnen. zuletzt zuständiger Sozialhilfeträgers. Heranziehung des Zweimonatszeitraums nach § 98 Abs 2 S 1 SGB 12. wechselnde tatsächliche Aufenthalte
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des tatsächlichen Aufenthalts bei einem Wechsel ins betreute Wohnen im Zusammenhang mit § 98 Abs 5 SGB XII.
Orientierungssatz
Im Rahmen des § 98 Abs 5 S 1 SGB 12 ist nicht entsprechend § 98 Abs 2 S 1 SGB 12 auf einen Zweimonatszeitraum abzustellen.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 8. September 2021 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, an den Kläger 11.973,45 € zu zahlen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert wird auf 11.973,45 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Sozialhilfeaufwendungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Höhe von 11.973,45 €, die der Kläger für R (nachfolgend: R) in dem Zeitraum 15. Oktober 2018 bis 31. Januar 2020 erbracht hat.
Die 1997 geborene R leidet nach der ärztlichen Bescheinigung der E vom 23. September 2018 an einer mittelgradigen Intelligenzminderung ohne oder mit geringfügiger Verhaltensstörung, einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Angst und depressiven Störung gemischt und einer ängstlichen Persönlichkeitsstörung. Auf der Grundlage dieser Diagnosen ging B in ihrer amtsärztlichen Stellungnahme (Landratsamt Z) vom 15. Oktober 2018 von einer geistigen und gleichzeitig seelischen Behinderung der R aus. R befinde sich in schwierigen und komplexen Familienverhältnissen. Es sei zwingend notwendig, dass R im Rahmen des Betreuten Wohnens oder in einem Wohnheim unterstützt werde, um weitere Übergriffe und Traumatisierungen aus der „persönlichen Urfamilie“ zu vermeiden.
Im Dezember 2017 wurde der Beklagte von einem Integrationsunternehmen, bei dem R eine Maßnahme des Jobcenters absolvierte, auf einen Eingliederungshilfebedarf (Aufnahme in einer Wohngruppe) hingewiesen. Einen entsprechenden schriftlichen Antrag stellte R im Januar 2018 beim Kläger. Im März 2018 fand zwischen dem Kläger und R ein Gespräch statt. Es ergab sich, dass sich R damals abwechselnd bei ihrer Mutter und einer Schwester in B (Zkreis) aufhielt und gelegentlich ihren in G (Landkreis S) lebenden Vater besuchte. Im Zusammenhang mit einer neuen Partnerschaft bestand der Wunsch der R, Abstand von ihrer Familie zu gewinnen und nach O zu ziehen. In dem am 16. September 2018 erstellten integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP) wurde ausgeführt, R wohne mit einem ihrer Brüder seit „Anfang August“ in der Wohnung ihres Vaters, der nach D verzogen sei. Die Finanzierung sei unklar. Sie wolle den Kontakt zur Familie möglichst weiter reduzieren; sie wolle nichts mit ihnen zu tun haben“. In einem „Zusatzbogen“ zum IBRP ist vermerkt, R „wohne seit Mitte August nach Konflikten mit der Mutter in der aktuell leer stehenden Mietwohnung ihres Vaters, der nach D gezogen sei; sie sei noch bei ihrer Mutter gemeldet“.
Gemäß dem Aktenvermerk des Klägers vom 30. September 2019 bestanden für R laut Einwohnermeldeauskunft folgende Meldeadressen: Bis 15. Dezember 2017 Hauptwohnsitz in B1 in der P-straße 15,vom 15. Dezember 2017 bis 25. April 2018 Hauptwohnsitz in B1, E-Straße 112, vom 25. April bis 22. November 2018 Hauptwohnsitz in B1, P-straße 15, vom 22. November 2018 bis aktuell Hauptwohnsitz in B2, S-straße 22 und vom 27. September 2018 bis aktuell Nebenwohnsitz in G, M-straße 38.
Durch den Verein für Gemeindenahe Psychiatrie in B2 begann am 15. Oktober 2018 die Betreuung der R. Ein „Probewohnen“ begann in einer Wohnung dieses Vereins am 22. Oktober 2018 (Wohnung in der S-straße 22 in B2); ein Umzug mit Begründung des Mietverhältnisses mit dem Verein begann am 22. November 2018. Die Betreuung durch diesen Verein endete mit dem 31. Januar 2020.
Mit Bescheid vom 3. Dezember 2019 bewilligte der Kläger R Sozialhilfe für die begleitende Betreuung im ambulant betreuten Wohnen nach § 54 SGB XII i.V.m. § 55 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) durch den Verein für Gemeindenahe Psychiatrie vom 15. Oktober 2018 bis 31. Dezember 2019. Gemäß § 43 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) erfolgte die Gewährung der Leistungen vorläufig; ein Antrag auf Erstattung der Kosten sei beim zuständigen Leistungsträger - dem Beklagten - erfolgt. Mit weiterem Bewilligungsbescheid vom 9. Januar 2020 bewilligte der Kläger R die Übernahme der Kosten für das ambulant betreute Wohnen als Leistung zur sozialen Teilhabe nach § 102 SGB IV i.V.m. § 113 SGB IX für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2020, längstens jedoch für die Dauer der tatsächlichen Betreuung durch den Leistungserbringer - den Verein für Gemeindenahe Psychiatrie B2.
Ab 22. Januar 2020 erfolgte eine Leistungsgewährung an R in Form einer gemeinsa...