Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG. kein Beweisnotstand bei richterlich zu würdigender Täteraussage. rechtliches Gehör des Beschuldigten. sozialgerichtliches Verfahren. Klageerweiterung. Leistungsantrag nach unzulässigem Feststellungsantrag. kein Anspruch auf Glaubhaftigkeitsgutachten. grundsätzlich eigene Sachkunde des Gerichts
Leitsatz (amtlich)
1. Es ist zweifelhaft, die Beweiserleichterung aus § 15 S 1 KOVVfG auch dann anzuwenden, wenn der beschuldigte Täter aussagt und die Tat bestreitet (entgegen BSG vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R = BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20 RdNr 41), denn die Würdigung der Aussagen eines beschuldigten Zeugen ist einzelfallbezogene richterliche Aufgabe. Auch das Recht auf gerichtliches Gehör aus Art 103 Abs 1 GG kann es gebieten, einen Beschuldigten als Zeugen zu vernehmen, weil ein stattgebendes Urteil ihn in seinem Persönlichkeitsrecht betrifft und präjudizielle Wirkung für die übergehenden Schadensersatzansprüche des Antragstellers haben kann.
2. Hat der Träger der Versorgungsverwaltung durch den angefochtenen Bescheid auch über eine Versorgung entschieden, so kann der Antragsteller, der seine Klage zunächst auf (unzulässige) Feststellungen beschränkt hatte, während des gerichtlichen Verfahrens wieder Leistungen begehren, ohne dass dem eine Bestandskraft des Ablehnungsbescheids entgegensteht.
Orientierungssatz
Ein Glaubhaftigkeitsgutachten (aus Gründen der Amtsermittlung oder als Folge eines dahin gehenden Beweisantrags) kommt nur dann in Betracht, wenn dem Gericht ausnahmsweise die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt (vgl BGH vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 = BGHSt 45, 164 und BSG vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B = SozR 4-1500 § 103 Nr 9).
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 17. Februar 2015 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt, zum Teil im Zugunstenverfahren, die behördliche Feststellung, in den Jahren 1965 bis 1967 einerseits und 1978 bzw. 1979 andererseits Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater geworden zu sein, und daran anschließend die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Die Klägerin ist im Jahre 1962 geboren. Sie ist deutsche Staatsangehörige und im Inland wohnhaft. Ihre Mutter brachte eine ältere Halbschwester (geb. 1960) in die Ehe mit dem Vater der Klägerin ein. Nach ihr wurden zwei weitere Schwestern 1964 und 1965 geboren. Sie besuchte eine Mädchenschule. Dort legte sie das Abitur ab. Noch vor der Abiturprüfung, mit 19 Jahren, zog sie mit einem aus Sizilien stammenden Mann zusammen, den sie mit 24 Jahren heiratete. Nach den späteren Angaben der Klägerin war der Ehemann gewalttätig und verübte sexuellen Missbrauch. Nach dem Abitur begann sie ein wirtschaftswissenschaftliches Studium, dass sie nach zwei Jahren zunächst abbrach. Danach absolvierte sie eine Ausbildung zur Groß- und Einzelhandelskauffrau. Sie war dann als Justizangestellte und als Bankangestellte bzw. als Buchhalterin berufstätig. Etwa ein Jahr lang betrieb sie zusammen mit dem Ehemann ein Restaurant. Diese Selbstständigkeit scheiterte jedoch und es verblieben höhere Schulden. Ab 1989 war die Klägerin bei einem Versicherungsunternehmen angestellt. Etwa zwischen 1990 und 1994 absolvierte sie erfolgreich ein Abendstudium der Betriebswirtschaftslehre. Während dieses Zeitraums, im Jahre 1993 oder 1994, ließ sie sich von ihrem Ehemann scheiden. Die Ehe war kinderlos geblieben. Nach dem Studienabschluss trat sie eine Stelle als Referentin bei einem Versicherungsunternehmen an.
Vom 9. Oktober 1995 bis zum 30. Mai 1996 befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung in den F.-Kliniken in S.. Nach ihrer dortigen Einweisung gab sie gegenüber den behandelnden Ärzte an, ihr Vater sei häufig alkoholisiert nach Hause gekommen, sie habe sich ständig vor „Übergriffen“ in Acht nehmen müssen. Die Mutter sei wenig wärmespendend, aber fordernd gewesen. Seit ihrem 16. Lebensjahr habe sie an Ess-Brech-Anfällen gelitten. Diese hätten nach ihrer Heirat abgenommen, nunmehr seit etwa zwei Jahren aber wieder zugenommen. Aktuell seien Schwindel und Synkopen aufgetreten. Sie habe in den letzten eineinhalb Jahren verschiedene Antidepressiva und Neuroleptika bekommen (der Behandler war Dr. Sch.). Seit etwa vier Monaten habe sie einmal wöchentlich eine Beratungsstelle aufgesucht. Ihre neue Berufstätigkeit als Referentin habe sie zunächst gut bewältigen können, jetzt stehe jedoch eine Umstrukturierung an, die zu mehr Zusammenarbeit mit Kollegen führen werde; davor habe sie Angst. Sie sei zunehmend antriebslos und suizidal geworden (vgl. Entlassungsbericht der Klinik vom 23. Juli 1996). Die Klinik diagnostizierte eine schizoid-narzisstische Persönlichkeitsstörung mit Ess-Störung auf Borderline...