Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Berufung ohne Unterschrift. Hinweispflicht des Gerichts. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Beginn der Wiedereinsetzungsfrist mit Kenntnisnahme des gerichtlichen Hinweisschreibens. soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. tätlicher Angriff. Vollbeweis. keine Beweiserleichterung bei vorhandenen Zeugen
Leitsatz (amtlich)
1. Die gerichtliche Fürsorgepflicht gebietet es, auf die Beseitigung von Formfehlern bei Eingang einer Berufung ohne Unterschrift hinzuwirken.
2. Wenn ein Täter bei einer behaupteten Tätlichkeit durch eine Sicherheitskraft (hier Cannstadter Wasen) nicht ermittelbar ist, lediglich Verletzungen am Tattag feststehen und die Erinnerungen des Opfers alkoholbedingt eingeschränkt, auch die Aussagen des einzigen Zeugen widersprüchlich sind, so ist ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nur möglich.
Orientierungssatz
1. Die einmonatige Wiedereinsetzungsfrist nach § 67 Abs 2 S 1 SGG beginnt im Falle eines gerichtlichen Hinweisschreibens mit der Kenntnisnahme des Schreibens durch den Kläger, mit welchem dessen Unkenntnis (hier: dass die Schriftform nicht gewahrt sein könnte), beseitigt wird.
2. Die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG greift nicht bereits ein, wenn ein Täter nicht ermittelt werden kann, sondern nur dann, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl BSG vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 = BSGE 65, 123 = SozR 1500 § 128 Nr 39).
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 14. April 2015 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Der 1966 geborene Kläger war Diplom-Betriebswirt, ist geschieden und bezieht Rente wegen voller Erwerbsminderung. Seit Juli 2011 ist bei ihm ein Grad der Behinderung von 60 wegen einer seelischen Krankheit (bipolare affektive Störung, ICD-10-GM-2016 F.31.0) anerkannt (Bescheid vom 7. November 2011).
Am 7. Oktober 2012 besuchte der Kläger mit einem Bekannten auf dem Cannstatter Wasen das G.-Festzelt. Beim Verlassen stürzte er am Ausgang zu Boden und stieß sich den Kopf. Anschließend wurde er im K.-O.-Krankenhaus behandelt und am Folgetag entlassen. Das Krankenhaus diagnostizierte eine oberflächliche Verletzung bei sonstiger Kopfprellung und eine Fraktur sonstiger Halsteile.
Am 8. Oktober 2012 erstattete der Kläger bei der Polizei Anzeige wegen Körperverletzung. Er gab dabei an, dass er vor Schließung des Zeltes am Ausgang gegen 23:00 Uhr noch schnell habe sein Bier austrinken wollen. Ein Sicherheitsangestellter habe ihm den Krug aus der Hand gerissen und danach gegen die Brust gestoßen. Wie jener genau gestoßen habe, könne er nicht sagen. Es müsse ein kräftiger Stoß gewesen sei, da er selbst 110 kg wiege und nicht so schnell umfalle. Aufgrund des Stoßes sei er rückwärts umgefallen und habe sich den Kopf angestoßen. Dann sei die Polizei gekommen und er ins Krankenhaus zur CT-Untersuchung gebracht worden. Dort seien eine leichte Gehirnerschütterung und ein Halswirbelsäulen-Syndrom diagnostiziert worden. Im Krankenhaus seien auch 1,3 Promille bei ihm festgestellt worden. Er habe sich aber nicht betrunken gefühlt. Der Kläger beschrieb den Sicherheitsangestellten als Ende 20 bis Mitte 30 Jahre alt, 170 bis 175 cm groß mit kräftig untersetzter Figur mit lichtem, blondem kurzem Haar und mit neumodischer, randloser Brille. Er habe einen violetten/dunkelroten Pulli mit der Aufschrift “MKS„, jedenfalls mit Buchstaben in gelber Farbe, getragen.
Darauf stellte die Polizei fest, dass die beschriebene Kleidung eindeutig der des Sicherheitsdienstes MKS entspreche, der jedoch nicht im Festzelt G., sondern im Festzelt Wasenwirt eingesetzt gewesen sei. Der darauf von der Polizei befragte Ordnerführer des MKS habe anhand der vom Kläger abgegebenen Beschreibung keinen Mitarbeiter benennen können. Aus Sicherheitsgründen würden dessen Mitarbeiter keine Brille tragen. Der einzige Brillenträger sei 50 Jahre alt und nicht im Eingangsbereich eingesetzt gewesen. Der ebenfalls befragte Geschäftsführer des im G.-Festzelt eingesetzten Sicherheitsdienstes SDS habe keinen Mitarbeiter angeben können, welcher der Täterbeschreibung entsprochen habe.
In der Folge wurde das Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft Stuttgart mit Verfügung vom 28. Januar 2013 nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) eingestellt, da der Täter unbekannt sei (Az.: 135 UJs 200086/13).
Am 26. Februar 2013 stellte der Kläger während eines längerfristigen Philippinenaufenthaltes auf Anraten seiner Krankenkasse beim Beklagten einen Antrag auf Beschädigtenversorgung, da er am 7. Oktober 2012 eine Verletzung aufgrund einer körperlichen Gewalttat erlitten hätte. Er leide nun unter Verlust des Erinnerungsvermögens und Konzentrationsstörungen. Seine Erinnerung über den Tathergang sei nahezu nicht mehr vorhanden. Er könne nicht mehr sagen als damals bei Anzeig...