Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse. Krankenversicherung der Rentner. Eintritt von Versicherungspflicht zum 1.4.2002. Ende der freiwilligen Mitgliedschaft. Mitteilungspflicht des Rentenbeziehers. grobe Fahrlässigkeit. Rückforderung eines überzahlten Beitragszuschusses. atypische Fallgestaltung. Aufhebungsermessen. Ermessensreduzierung auf Null. Mitverschulden von beteiligten Behörden. Jahresfrist
Orientierungssatz
1. Grobe Fahrlässigkeit (auch iSd § 48 Abs 1 S 2 Nr 2 und 4 SGB 10) liegt gem § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 Halbs 2 SGB 10 vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt worden ist. Notwendig ist, dass schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt werden und daher nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen (vgl etwa BSG vom 08.2.2001 - B 11 AL 21/00 R = SozR 3-1300 § 45 Nr 45).
2. 48 Abs 1 S 2 SGB 10 ist eine Sollvorschrift. Das bedeutet, dass der Leistungsträger den Verwaltungsakt in der Regel rückwirkend aufheben muss und nur in atypischen Fällen nach pflichtgemäßem Ermessen hiervon abweichen darf. Das Vorliegen eines atypischen Falles stellt eine Rechtsvoraussetzung für die Eröffnung des Aufhebungsermessens dar. Maßgeblich hierfür sind die Umstände des Einzelfalls. Es kommt darauf an, ob der Einzelfall auf Grund seiner besonderen Umstände von dem Regelfall der Tatbestände nach § 48 Abs 1 S 2 SGB 10, die die Aufhebung des Verwaltungsakts für die Vergangenheit gerade rechtfertigen, signifikant abweicht und die vorgesehene Rechtsfolge für den Betroffenen eine unverhältnismäßige Härte darstellen würde. Dabei ist die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt oder nicht, nicht losgelöst davon zu beurteilen, welcher der in den Nr 1 bis 4 vorausgesetzten Tatbestände erfüllt ist.
3. Ist der Behörde danach Ermessen eröffnet, muss sie das Interesse des Versicherten am Behalten-dürfen der rechtswidrig (weiter-)bezogenen Leistung mit dem öffentlichen Interesse an deren Rückführung abwägen. Letzterem kommt grundsätzlich der Vorrang zu. Das folgt aus dem für alle Versicherungsträger geltenden Wirtschaftlichkeitsgebot des § 69 Abs 2 SGB 4 iVm § 76 Abs 2 SGB 4. Für eine von dieser gesetzlichen Wertung abweichende Ausübung des Aufhebungsermessens müssen damit erhebliche Gründe vorliegen. Hierfür kommen etwa grobes Verschulden der Behörde ohne Verschulden des Betroffenen oder eine besondere Härte oder die Unverhältnismäßigkeit der Rückforderung in Betracht.
4. Bei der Anwendung der Jahresfristregelung nach § 48 Abs 4 S 1 iVm § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 auf die Aufhebungsvorschrift des § 48 Abs 1 S 2 SGB 10 muss das maßgebende Wissen der Behörde sämtliche Tatsachen und Umstände betreffen, die die wesentliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse bei Erlass des aufzuhebenden Verwaltungsakts darstellen, und außerdem auch diejenigen Tatsachen umfassen, die die Behörde zur Ausübung ihres Ermessens benötigt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Behörde gleichzeitig Kenntnis von jenen Umständen hatte, die nach ihrer Rechtsmeinung auch eine Atypik iS des "Soll"-Ermessens begründen. Denn der Sinn der Jahresfrist dient nicht dem Vertrauensschutz des Betroffenen, sondern der Rechtssicherheit (vgl BSG vom 31.1.2008 - B 13 R 23/07 R). Die Jahresfrist beginnt daher, wenn die Aufhebung keine weiteren Ermittlungen mehr erfordert. Erst dann darf der Leistungsempfänger davon ausgehen, dass die Behörde den rechtsfehlerhaften Bescheid innerhalb eines Jahres nicht mehr revidiert.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 01.09.2011 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Rückforderung von Zuschüssen zur Kranken- und Pflegeversicherung.
Der 1941 geborene Kläger, gelernter Großhandelskaufmann, war zuletzt bei der Staatlichen T.-Gesellschaft als Gruppenleiter beschäftigt. Er beantragte am 13.11.2000 die Gewährung einer Altersrente. Am 28.11.2000 stellte der Kläger einen Antrag auf Gewährung eines Zuschusses zur Krankenversicherung gemäß § 106 SGB VI und zur Pflegeversicherung gemäß § 106a SGB VI. Er verpflichtete sich - entsprechend dem unterzeichneten Vordrucktext - u.a. die Beendigung der freiwilligen Krankenversicherung, jede Veränderung der Beitragshöhe für die Krankenversicherung, den Beginn einer Versicherungspflicht in der Krankenversicherung, jede Änderung des Pflegeversicherungsverhältnisses (z.B. Eintritt von Versicherungspflicht) unverzüglich der Rechtsvorgängerin der Beklagten anzuzeigen.
Mit Rentenbescheid vom 27.12.2000 gewährte die Beklagte dem Kläger eine Altersrente ab 01.04.2001 in Höhe von monatlich 3.152,88 DM. Mit Rentenbescheid vom 13....