Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen einer Erwerbminderungsrente auf Zeit
Leitsatz (amtlich)
Für die Beurteilung des Eintritts des Leistungsfalls der Erwerbsminderung ist eine rückschauende Betrachtungsweise maßgeblich. Stellt sich retrospektiv heraus, dass eine (zunächst möglicherweise nur vorübergehende) Leistungsminderung nicht endet, ist der Beginn der Leistungsminderung identisch mit dem Eintritt der Erwerbsminderung. Die objektive Beweislast für das Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt des Eintritts des Leistungsfalls trägt der die Rente begehrende Versicherte.
Normenkette
SGB VI § 3 Abs. 1 Nrn. 3, 3a, § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1 Nr. 2, Abs. 3, 4 Nrn. 1-2, Abs. 5, §§ 53, 55 Abs. 2, § 101 Abs. 1, § 102 Abs. 2, § 122 Abs. 2 S. 2, § 241 Abs. 2 S. 1; SGG §§ 95, 128
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 23.02.2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1963 geborene Klägerin erlernte den Beruf der Bäckereifachverkäuferin und absolvierte eine Weiterbildung zur Bürokauffrau. Aufgrund der Erziehung ihrer Kinder (geb. 1998 und 2001) übte sie von 1998 bis 2015 keine berufliche Tätigkeit aus, weshalb nach Kindererziehungs- und Kinderberücksichtigungszeiten eine Lücke in ihrem Versicherungsverlauf vom 17.09.2011 bis 30.06.2015 entstand. Vom 01.07.2015 bis 31.12.2016 sowie erneut ab 03.07.2017 übte die Klägerin eine versicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung (Bürotätigkeit) aus. Seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit am 05.07.2018 hat die Klägerin nicht mehr gearbeitet. Nach Ende der Lohnfortzahlung hat sie Krankengeld, Übergangsgeld und ab 16.09.2019 bis 13.05.2020 Arbeitslosengeld bezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten der zurückgelegten rentenrechtlichen Versicherungszeiten wird auf den Versicherungsverlauf vom 02.03.2023 (S. 68 ff. Senatsakte) Bezug genommen.
Bereits 2004 erlitt die Klägerin einen ersten Schlaganfall mit Halbseitensymptomatik links, ein weiterer Schlaganfall ereignete sich 2013 (vgl. Entlassungsbericht des O Klinikums über die stationäre Behandlung vom 05.10. bis 15.10.2013, Bl. 55, 58 Verwaltungsakte [VerwA]). Vom 06.07. bis 13.07.2018 wurde die Klägerin wegen eines erneuten Schlaganfalls in der S des Universitätsklinikums F (UKF) behandelt (Bl. 43 VerwA). Vom 26.07. bis 30.08.2018 absolvierte sie eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in den Kliniken S G. Laut Entlassungsbericht (S 26 ff. SG-Akte) wurde sie mit den Diagnosen rezidivierende Hirninfarkte multifaktorieller Genese (cerebellär rechts 2004, Posteriorstromgebiet rechts 2013, Mediastromgebiet rechts 05/2018), Hemihypästhesie links, erschwerte Krankheitsverarbeitung und Gangunsicherheiten arbeitsunfähig entlassen, perspektivisch wurde ein vollschichtiges Leistungsvermögen im Bezugsberuf als Sekretärin und Sachbearbeiterin angenommen. Vom 20.09. bis 09.10.2018 musste die Klägerin erneut in der S der UKF stationär behandelt werden (Bl. 142 SG-Akte). Im Mai 2019 wurde die Verdachtsdiagnose Lungenkrebs gestellt, die schließlich nach mehreren Untersuchungen (Spirometrie am 13.05.2019, PET-CT am 22.05.2019, Bronchoskopie 27.05.2019; dazu Arztbriefe des UKF Bl. 21, 20, 16 VerwA) und einer Lobektomie (Arztbrief UKF über die stationäre Behandlung vom 26.06. bis 06.07.2019, Bl. 9 VerwA) ausgeschlossen werden konnte (Arztbrief UKF vom 10.07.2019, Bl. 7 VerwA).
Mit bei der Beklagten am 29.08.2019 eingegangenem Antrag begehrte die Klägerin erneut eine Rehabilitationsmaßnahme. Diese wurde vom 21.01. bis 25.02.2020 stationär in der Klinik H in D durchgeführt. Mit den Entlassungsdiagnosen depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, rezidivierende Hirninfarkte bei Verdacht auf (V.a.) Hyperviskositätssyndrom, myeloproliferative Neoplasie DD Polycytämia Vera, hochgradige distale Arteria carotis interna (ACI)-Stenose rechts, arterielle Hypertonie, Migräne, Unterlappenlobektomie 6/19 bei schwergradiger nekrotisierender und granulomatöser Entzündung wurde im Entlassungsbericht vom 25.02.2020 von einem unter dreistündigen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten ausgegangen, mit einer ausreichenden Remission sei im nächsten halben Jahr nicht zu rechnen.
Am 12.03.2020 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte zog medizinische Unterlagen bei (u.a. die oben genannten sowie einen Bericht des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung [MDK] vom 11.04.2019 und einen Bericht des K vom 04.04.2019), lehnte den Antrag mit Bescheid vom 24.04.2020 ab und führte zur Begründung aus, die Klägerin sei seit 03.07.2018 befristet voll erwerbsgemindert. Sie erfülle jedoch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht, da sie im Zeitraum 03.07.2013 bis 02.07.2018 nur 31 Monate mit Pflichtbeiträgen habe. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, der Leistung...