Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Herabsetzung nach Heilungsbewährung. sozialgerichtliches Verfahren. Erweiterung der Anfechtungsklage um eine Verpflichtungsklage. Zulässigkeit einer Klageänderung im Berufungsverfahren. fehlende funktionelle Zuständigkeit des LSG für erstmalige Verpflichtungsklage. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Mitberücksichtigung von psychischen Folgen durch Heilungsbewährung
Orientierungssatz
1. Eine Änderung der Klage im Berufungsverfahren ist nur zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält.
2. Für eine Entscheidung über eine erstmals im Berufungsverfahren geltend gemachte Verpflichtungsklage fehlt es an der Sachurteilsvoraussetzung der funktionellen (instanziellen) Zuständigkeit des Landessozialgerichts (vgl BSG vom 31.7.2002 - B 4 RA 20/01 R = SozR 3-1500 § 29 Nr 1 und vom 23.4.2015 - B 5 RE 23/14 R = BSGE 118, 294 = SozR 4-2600 § 2 Nr 20).
3. Die Heilungsbewährung erfasst auch die vielfältigen Auswirkungen, die mit der Feststellung, Beseitigung und Nachbehandlung des Tumors in allen Lebensbereichen verbunden sind (vgl BSG vom 9.8.1995 - 9 RVs 14/94 = SuP 1996, 259 ).
4. Zur GdB-Herabsetzung nach Heilungsbewährung entsprechend den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 04.10.2022 wird zurückgewiesen und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) im Sinne des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) und begehrt erstmals im Berufungsverfahren die Verpflichtung zur Feststellung eines GdB von 50.
Der 1960 geborene Kläger erkrankte im November 2014 an einem hochmalignen Non-Hodgkin-Lymphom. Mit Bescheid vom 22.01.2015 erkannte der Beklagte einen GdB von 100 seit dem 23.12.2014 an. Nach Abschluss der Intensiv-Therapie bei Vollremission änderte der Beklagte die Bescheide mit Änderungsbescheid vom 30.06.2016 dahingehend ab, dass nur noch ein GdB von 80 seit dem 03.07.2016 aufgrund folgender Funktionsstörung anzuerkennen sei: Erkrankung des lymphatischen Systems (in Heilungsbewährung).
Im Rahmen einer von Amts wegen eingeleiteten Nachprüfung der gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers hob der Beklagte nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 23.08.2019 die vorausgegangenen Bescheide vom 22.01.2015 und 30.06.2016 auf und setzte den GdB ab dem 26.08.2019 auf 20 fest, da Heilungsbewährung eingetreten sei. Es bestehe nach Aktenlage kein Hinweis auf eine Neuerkrankung bzw. Reaktivierung der lymphatischen Erkrankung. Dabei wurden folgende Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt:
|
Knorpelschäden am linken Kniegelenk |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
20 |
Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.2021 - beim klägerischen Bevollmächtigten eingegangen am 07.07.2021 - als unbegründet zurück. Sämtliche Gesundheitsstörungen des Klägers seien mit einem Gesamt-GdB von 20 angemessen bewertet. Die Verlaufsdokumentation der V1-Kliniken bestätige die komplette Remission nach Lymphomerkrankung . Es bestehe ein guter Allgemeinzustand bei Wohlbefinden sowie ein stabiles Körpergewicht. Eine B-Symptomatik sei nicht objektivierbar.
Hiergegen hat der Kläger am 06.08.2021 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Der Beklagte habe nicht sämtliche bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen angemessen berücksichtigt. So sei kürzlich ein Diabetes mellitus Typ 2 festgestellt worden, welcher mit einem eigenständigen Teil-GdB von 30 zu bewerten sei. Auch habe er zwischenzeitlich eine einseitige Prothese im Kniegelenk links eingesetzt bekommen. Der Kniegelenksersatz sei noch nicht ausgeheilt und führe zu andauernden fortlaufenden Beschwerden, die einen Teil-GdB von 30 begründeten. Am anderen nicht endoprothetisch versorgten Kniegelenk bestehe eine mediale Gonarthrose, welche zusätzlich zu berücksichtigen sei. Auch die mittlerweile eingetretene Sehminderung führe zu einem Teil-GdB von 30. Zuletzt sei die erlittene Karzinomerkrankung bis heute noch nicht ausgestanden. Es bestünden erhebliche psychische Langzeitfolgen.
Der Kläger hat zahlreiche medizinische Unterlagen vorgelegt, u.a. einen vorläufigen Entlassbericht der Klinik für Orthopädie vom 22.11.2021 über eine Knie-TEP, links am 04.11.2021, einschließlich des späteren Reha-Entlassberichts, einen MRT-Bericht über eine Gonarthrose rechts vom 30.10.2021, einen Bericht des O1 vom 25.06.2019 über eine mediale Gonarthrose links (Beweglichkeit 120/10/0Grad) sowie einen Sonografiebericht vom 22.05.2020 ohne isolierten pathologischen Befund für die Leber und einen Verlaufsbericht über die Karzinomerkrankung, dem seit 2016 Wohlbefinden und keine Rezidivhinweise zu entnehmen sind (SG 60ff). Der seitens des Klägers vorgelegten Benennung der Ä...