Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Anspruch auf Verletztengeld. Feststellung der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit. ärztlich-gutachtliche Stellungnahme. keine Bindungswirkung gegenüber dem Unfallversicherungsträger oder dem Gericht
Leitsatz (amtlich)
Bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit sind weder die Unfallversicherungsträger noch die Gerichte an ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen gebunden; diesen kommt lediglich die Bedeutung einer ärztlich-gutachtlichen Stellungnahme zu.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 27.07.2020 (S 13 U 2979/17) und der Bescheid der Beklagten vom 30.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2017 abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, unter teilweiser Rücknahme des Bescheids vom 29.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013 das Ereignis vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger für die Zeit vom 01.01.2013 bis einschließlich 08.01.2013 Verletztengeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im ersten Rechtszug zu einem Fünftel und im zweiten Rechtszug zu einem Viertel zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt im Wege des sog. Zugunstenverfahrens die Anerkennung des Ereignisses vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall sowie die Gewährung von Verletztengeld.
Der 1958 geborene Kläger übte eine Tätigkeit als selbstständiger Handelsvertreter aus, vertrieb in dieser Eigenschaft Luftbildaufnahmen und besuchte dabei - im Sinne einer „Kaltakquise“ - täglich ca. 30 bis 40 potenzielle Kunden, die er mit dem Pkw aufsuchte. Bei entsprechendem Interesse der Kunden holte er aus seinem Pkw einen - seinen eigenen Angaben nach - mindestens 20 kg wiegenden Musterkoffer in dem sich verschiedene Bilder (ca. zehn Stück) in unterschiedlichen Größen (größtes Bild ca. 50 x 70 cm) sowie seine Auftragsmappe befanden. Zudem vermittelte er Solar-/Photovoltaikanlagen sowie Dach-/Fassadensanierungen und musste in diesem Zusammenhang - ebenfalls seinen eigenen Angaben nach - gelegentlich auf Leitern steigen, um zu prüfen, inwieweit die Dachziegel für eine entsprechende Sanierung geeignet waren. Ein Betreten des Daches war hierbei nicht erforderlich (s. Bl. 69 VA zum Unfall vom 22.06.2013). Von 1996 bis zur Beendigung der freiwilligen Versicherung durch die Beklagte zum 01.07.2013 (Bescheid vom 14.06.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.08.2013, welcher nach Rücknahme der Berufung im Verfahren L 9 U 2583/17 durch den Kläger bestandskräftig wurde, s. beigezogene LSG-Akte zum Verfahren L 9 U 2583/17) - und somit auch zum Zeitpunkt des vorliegend angeschuldigten Ereignisses - war er mit der Höchstversicherungssumme freiwillig bei der Beklagten versichert. In diesem Zeitraum meldete er bei der Beklagten 106 Arbeitsunfälle (s. Schriftsatz der Beklagten vom 25.03.2021 in dem Verfahren L 10 U 360/21) und bezog Verletztengeld in Höhe von über 390.000 €. Der Kläger ist im Übrigen bei der Techniker Krankenkasse mit Anspruch auf Krankengeld krankenversichert (s. Bl. 46 VA).
Am 27.12.2012 suchte der Kläger die - damals 84-jährige - Frau W in der K Str. in V auf und bot ihr Luftaufnahmen an. Nach eigenen Angaben in der Unfallanzeige (Bl. 17 VA) bzw. im entsprechenden Fragebogen (Bl. 39 VA) rutschte er gegen 14.00 Uhr nach Beendigung des Kundengespräches auf dem Weg zu seinem Auto im nassen Hof von Frau W mit dem rechten Bein weg und verspürte starke Schmerzen im Bereich der rechten Leiste und des rechten (Ober-)Schenkels, wegen derer er sich anschließend bei dem E in N vorstellte. Dieser beschrieb eine sehr druckschmerzhafte, verhärtete Muskulatur der Oberschenkelinnenseite rechts von der Leiste ausgehend bis zur Oberschenkelmitte (Adduktoren) ohne tastbare Delle, diagnostizierte eine Adduktorenzerrung rechts (Bl. 18 VA) und bescheinigte dem Kläger Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich 07.01.2013 (Bl. 36 VA). Wegen noch bestehender Schmerzen stellte sich der Kläger am 29.12.2012 im C-Krankenhaus M (E1) vor (Bl. 19 VA). E1 beschrieb klinisch reizlose Hautverhältnisse und einen Druckschmerz entlang der Adduktoren. Eine Bewegungseinschränkung beschrieb er nicht (Extension/Flexion, Außen-/Innenrotation, Ab-/Adduktion gegen Widerstand möglich, pDMS intakt). Die durchgeführte Sonographie des rechten Oberschenkels ergab eine glatte Muskulatur ohne Hämatom und durch eine Röntgenaufnahme des Beckens konnte eine Fraktur und ein knöcherner Ausriss ausgeschlossen werden. Es zeigte sich lediglich eine Koxarthrose Stadium II beidseits. E1 diagnostizierte gleichfalls eine Adduktorenzerrung und bestätigte eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 07.01.2013. Am 29.12.2012 hatte der Kläger den Unfall bei der Beklagten angezeigt.
Am 04.01.2013 stellte er sich erneut bei E vor, der Arbeitsunfähigkeit auf Grund einer noch feststellbaren Muskelverhärtung bis einschließlich 15.01.2013 bescheinigte (Bl. 25 und 37 V...