Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Berufung. Verfahrensmangel. Ausdehnung der Entscheidung auf nicht streitgegenständliche Ansprüche. Grundsatz ne ultra petita. Verstoß gegen § 151 Abs 3 SGG. Voraussetzung für Verwerfung der Berufung. soziale Pflegeversicherung. Beweisanordnung nach § 18 Abs 1 SGB 11. unselbstständige Verfahrenshandlung. keine eigenständige Anfechtung
Leitsatz (amtlich)
1. Das Gericht darf seine Entscheidung nicht auf Ansprüche ausdehnen, die der Sache nach nicht streitgegenständlich sind. Den Gerichten ist es daher verwehrt, einem Kläger mehr zuzusprechen, als er beantragt hat (Grundsatz des "ne ultra petita").
2. Verstöße gegen die Soll-Vorschrift des § 151 Abs 3 SGG führen nicht zur Unzulässigkeit der Berufung. Die Berufung ist vielmehr nur dann als unzulässig zu verwerfen, wenn das Begehren des Rechtsmittelführers bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens nicht geklärt werden kann.
3. Bei einer Beweisanordnung der Pflegekasse nach § 18 Abs 1 SGB XI handelt es sich um eine unselbstständige behördliche Verfahrenshandlung iS von § 56a SGG, die nur zusammen mit dem Rechtsbehelf gegen die Sachentscheidung angefochten werden kann.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 11. November 2020 aufgehoben, soweit damit über eine auf Bescheidung des Antrags auf Festsetzung einer Verzögerungsgebühr gerichtete Untätigkeitsklage entschieden worden ist.
Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Verpflichtung der Beklagten, im Verwaltungsverfahren ein Pflegegutachten bei einem unabhängigen ärztlichen Gutachter anstelle des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) einzuholen, sowie um die Feststellung der Untätigkeit der Beklagten.
Der 1959 geborene Kläger, der bis zum 30. April 2020 bei der Beklagten sozial pflegeversichert war, lebt in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft. Ab Oktober 2017 bezog er von der Beklagten Leistungen nach Pflegegrad 1 (Bescheid vom 15. Dezember 2017). Der Bewilligung lag das Pflegegutachten des MDK vom 14. Dezember 2017 zugrunde (23,75 gewichtete Punkte).
Am 22. Mai 2018 stellte der Kläger bei der Beklagten einen ersten Antrag auf Einstufung in einen höheren Pflegegrad. Diesen lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Dezember 2018 ab, nachdem sie sowohl im Verwaltungs- als auch im Widerspruchsverfahren Pflegegutachten des MDK eingeholt hatte, die in den pflegefachlich zu bewertenden Modulen jeweils einen gewichteten Gesamtpunktewert von 13,75 ermittelt hatten. Beide Pflegegutachten waren von Pflegefachkräften des MDK auf der Grundlage von Hausbesuchen erstattet worden (Gutachten zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit der Pflegefachkraft B vom 26. Juli 2018; Gutachten zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit der Pflegefachkraft G vom 24. Oktober 2018).
Dagegen erhob der Kläger am 10. Januar 2019 beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage mit den Anträgen, festzustellen, dass das durchgeführte Verfahren der Pflegebegutachtung gegen die gesetzlichen Vorgaben zur Beteiligung von Ärzten und zur Einbeziehung der behandelnden Ärzte i.V.m. dem Amtsermittlungsgrundsatz verstoße, und den Bescheid der Beklagten vom 30. Juli 2018 über die Ablehnung der Höherstufung des Pflegegrades aufgrund der Verfahrensverstöße aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem Höherstufungsantrag Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 3, hilfsweise Pflegegrad 2, zu gewähren (Az. S 9 P 128/19). Zur Begründung führte er an, entgegen seiner ausdrücklich geäußerten Bitte seien im Rahmen der Pflegebegutachtung durch den MDK keinerlei ärztliche Befunde zu seinem Gesundheitszustand und dessen Änderung eingeholt worden. Nachdem im Rahmen der Begutachtung die Beteiligung von Ärzten gesetzlich zwingend vorgesehen sei, weise das Verfahren der Beklagten und des MDK eklatante Mängel auf.
Das SG vernahm die S schriftlich als sachverständige Zeugin (Zeugenauskunft vom 26. April 2019) und bestellte die Pflegefachkraft B1 zum gerichtlichen Sachverständigen. Der Kläger lehnte eine Begutachtung durch diesen Sachverständigen wegen dessen fehlender ärztlicher Qualifikation ab (Schreiben vom 22. Juli 2019). Auf Anfrage des SGvom 18. Oktober 2019, ob der Kläger bereit sei, sich einer Begutachtung durch einen ärztlichen Sachverständigen zu unterziehen, teilte der Kläger mit, dass ihm die Einholung eines gerichtlichen Gutachtens im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens nicht mehr zumutbar sei und er es vorziehe, einen neuen Höherstufungsantrag zu stellen, da dies angesichts der im Gesetz vorgesehenen Fristen bei einer normalen Pflegebegutachtung der deutlich schnellere Weg sei (Schreiben vom 22. Oktober 2019).Mit Urteil vom 18. November 2019 wies das SG daraufhin die Klage ab. Die Entscheidung begründete es im Wesentlichen damit, d...