Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Streit über Gewährung von Pflegeleistungen. Höherstufungsantrag. Pflegebegutachtung. keine Verpflichtung der Pflegekasse bzw des MDK, Hausbesuch zwingend unter Beteiligung von Ärzten durchzuführen. sozialgerichtliches Verfahren. Berufungseinlegung gegen Ablehnungsbescheid. anschließende Versagungsentscheidung nach § 66 SGB 1 wird nicht Gegenstand des Verfahrens. Beweisanordnung. Erlaubnis zur Aktenweitergabe an Sachverständigen. Widerruf der Einverständniserklärung durch Kläger. Verwertbarkeit des Sachverständigengutachtens
Leitsatz (amtlich)
1. In den Grenzen der nach § 118 SGG iVm § 404 ZPO getroffenen Beweisanordnung ist die Zuleitung der Akten an den Sachverständigen datenschutzrechtlich hinsichtlich der Gesundheitsdaten und anderen besonderen personenbezogenen Daten durch Art 9 Abs 2 lit f Alt 2 DSGVO (juris: EUV 2016/679) und hinsichtlich der Sozialdaten durch § 78 Abs 1 S 4 SGB X iVm § 69 Abs 1 Nr 2 SGB X erlaubt.
2. Widerspricht der Kläger während des sozialgerichtlichen Verfahrens ohne gewichtige Gründe der Weitergabe der Akten an den Sachverständigen oder widerruft er sein Einverständnis hierzu, führt dies nicht dazu, dass das Gutachten im Prozess nicht verwertet werden kann.
3. Aus § 18 Abs 1 S 1 iVm Abs 7 S 1 SGB XI (in der vorliegend anzuwendenden, ab 1. Januar 2017 bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung) folgt keine Verpflichtung der Pflegekasse bzw des MDK, den Hausbesuch im Rahmen der Pflegebegutachtung zwingend unter Beteiligung von Ärzten durchzuführen.
4. Im Unterschied zur Ablehnung enthält die Versagungsentscheidung nach § 66 SGB I keine Entscheidung über den Leistungsanspruch, sodass er nicht gemäß § 153 Abs 1 iVm § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens wird.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 18. November 2019 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung höherer Leistungen der sozialen Pflegeversicherung ab dem 22. Mai 2018 (Pflegegrad 3 statt Pflegegrad 1).
Der 1959 geborene, alleinstehende Kläger ist bei der Beklagten bis 30. April 2020 sozial pflegeversichert gewesen. Er leidet an einer äthyltoxisch entstandenen Polyneuropathie der Beine mit Bewegungsstörungen und Gang- und Standunsicherheit. Der Kläger wohnt in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft. Die Wohnung liegt im Erdgeschoss und die genutzten Räume befinden sich auf einer Ebene. Vor dem Hauseingang sind zwei Stufen zu überwinden.
Ab Oktober 2017 bezog der Kläger von der Beklagten Leistungen nach Pflegegrad 1 (Bescheid vom 15. Dezember 2017). Der Bewilligung lag das Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) vom 14. Dezember 2017 zugrunde. Darin hatte die Pflegefachkraft N aufgrund einer Begutachtung im häuslichen Umfeld (ausgehend von den pflegebegründenden Diagnosen: Störungen des Gangs und der Mobilität sowie rezidivierende depressive Störung) gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten im Bereich der Mobilität (Modul 1: überwiegend selbstständiges Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, überwiegend selbstständiges Treppensteigen), im Bereich der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten (Modul 2: überwiegend selbstständiges Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben; überwiegend selbstständiges Mitteilen von elementaren Bedürfnissen), im Bereich der Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen (Modul 3: häufige Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage), im Bereich der Selbstversorgung (Modul 4: überwiegend selbstständiges Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare; überwiegend selbstständiges Trinken) und im Bereich der Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte (Modul 6: überwiegend selbstständige Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen; überwiegend selbstständiges Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen) erhoben und mit insgesamt 23,75 gewichteten Punkten bewertet.
Am 22. Mai 2018 beantragte der Kläger bei der Beklagten wegen einer Änderung seines Hilfebedarfs die Einstufung in einen höheren Pflegegrad. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung durch den MDK. Mit Gutachten vom 26. Juli 2018 stellte die Pflegefachkraft B die pflegebegründenden Diagnosen rezidivierende depressive Störung sowie Störungen des Gangs und der Mobilität. Auf Grund eines Hausbesuchs am 25. Juli 2018 gelangte sie zu dem Ergebnis, dass die aktuell festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu einer Abnahme der Selbständigkeit geführt hätten, jedoch ein höherer Pflegegrad noch nicht erreicht werde. Bei insgesamt 13,75 gewichteten Punkten (Mobilität: 2,50 Punkte; Kognitive und kommunikative Fähigkeiten/Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: 7,50 Punkte; Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: 3,75 Punkte) liege weiterhin Pflegegrad 1 vor. Nach Angaben des Klägers habe ...