Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Leistung zur Teilhabe. Träger der Eingliederungshilfe als zweitangegangener Rehabilitationsträger. Therapiedreirad als Leistung der medizinischen Rehabilitation. Vorbeugung einer drohenden Behinderung. Behinderungsausgleich. Erfolg der Krankenbehandlung
Leitsatz (amtlich)
Der Träger der Eingliederungshilfe hat als zweitangegangener Rehabilitationsträger die begehrte Teilhabeleistung nach allen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen zu prüfen. Hier: Therapiedreirad als Leistung zur medizinischen Rehabilitation.
Orientierungssatz
1. Bei einer bereits bestehenden Behinderung dient ein Hilfsmittel dann zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung (vgl § 33 Abs 1 S 1 Alt 2 SGB 5), wenn mit dessen Einsatz im Schwerpunkt die Verschlimmerung der vorhandenen Behinderung verhütet oder der Hinzutritt einer wertungsmäßig neuen Behinderung abgewendet wird. Dies erfordert, dass in sachlicher und zeitlicher Hinsicht die dauerhafte Verschlimmerung der bestehenden Behinderung oder der Hinzutritt einer wertungsmäßig neuen Behinderung konkret drohen, denen vorzubeugen den Schwerpunkt des Hilfsmitteleinsatzes bildet (vgl BSG vom 7.5.2020 - B 3 KR 7/19 R = SozR 4-2500 § 33 Nr 54).
2. Im Rahmen des Behinderungsausgleichs (vgl § 33 Abs 1 S 1 Alt 3 SGB 5) ist zu prüfen, ob der Nahbereich ohne ein Hilfsmittel nicht in zumutbarer und angemessener Weise erschlossen werden kann und insbesondere durch welche Ausführung der Leistung diese Erschließung des Nahbereichs für einen behinderten Menschen durch ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich verbessert, vereinfacht oder erleichtert werden kann.
3. Leistungen außerhalb des Rechts der Teilhabe (hier Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung nach § 33 Abs 1 S 1 Alt 1 SGB 5) fallen nicht unter die durch § 14 SGB 9 begründete Zuständigkeit des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers.
4. Zum Leitsatz vgl BSG vom 20.10.2009 - B 5 R 5/07 R = SozR 4-3250 § 14 Nr 8.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 23. Mai 2019 wird zurückgewiesen.
Außergerichtlichen Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Therapiedreirad der Firma W..
Die am 1978 geborene Klägerin ist bei der Beigeladenen krankenversichert. Im Jahr 1994 wurde bei der Klägerin erstmals die Diagnose einer Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose) gestellt. Seit 1. Mai 2014 sind bei ihr ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G festgestellt.
Durch den Facharzt für Neurologie Dr. G. wurde aufgrund der bei der Klägerin bestehenden Enzephalomyelitis disseminata unter dem 7. Juni 2016 ein „Elektro-Dreirad 26 Fa. W.“ zulasten der beigeladenen Krankenkasse verordnet (Bl. 1 VA).
Die Beigeladene leitete den Antrag auf Kostenübernahme für ein Elektro-Dreirad mit Schreiben vom 15. Juni 2016, beim Beklagten eingegangen am 20. Juni 2016, an den Beklagten weiter. Es würden Leistungen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beantragt. Die Klägerin könne den Nahbereich zu Fuß erschließen. Für längere Strecken stehe ihr ein PKW zur Verfügung. Das beantragte Elektro-Dreirad solle bei Kurzstrecken den Einsatz des Autos ersetzen. Das Elektro-Dreirad sei somit nicht für die Sicherung der Krankenbehandlung und für den Behinderungsausgleich erforderlich.
Auf Frage des Beklagten zu Einzelheiten der beabsichtigten Nutzung des Dreirads und zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen teilte die Klägerin mit, sie sei nicht sozialhilfebedürftig und habe eine sozialhilferechtliche Kostenübernahme nicht beantragt. Die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Antrags auf Versorgung mit einem Therapiedreirad habe grundsätzlich bei der Krankenkasse gelegen, da es sich bei dem Therapiedreirad um ein Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) handele. Das Elektro-Therapiedreirad sei ärztlich verordnet worden. Die Therapie-Dreiräder der Firma W. seien mit einer Hilfsmittelnummer im Sinne des Hilfsmittelverzeichnisses der gesetzlichen Krankenversicherung ausgestattet. Die Benutzung des Therapiedreirades unterstütze und fördere den Gleichgewichtssinn insbesondere durch die Notwendigkeit zu Koordination von gleichzeitigem Treten und Lenken und sei individuell an die körperlichen Bedürfnisse des Benutzers angepasst. Insoweit handele es sich nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Das Therapiedreirad solle bei Kurzstrecken sowie ausschließlich von der Klägerin benutzt werden. Die Klägerin legte medizinische Unterlagen vor (Bl. 79/170 VA). Nach einem Arztbrief des Dr. G. vom 23. Juli 2013 (Bl. 152/153 VA) sei medizinisch sinnvoll auch hinsichtlich der Teilhabe am Familienleben etc. ein Dreirad, damit die Klägerin in der Lage sei, ihre sozialen Aktivitäten mit der Familie aufrecht zu erhalten und gleichzeitig die Koordination zu trainieren bzw. die dringend erforderliche Bewegung...