Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Wiedereinsetzung. höhere Gewalt gem § 67 Abs 3 SGG. Anwendbarkeit des § 98 SGG bei Verweisung wegen örtlicher Unzuständigkeit im Berufungsverfahren. Rücknahme eines bestandskräftigen Rücknahmebescheides gem § 44 SGB 10. Vertrauensschutz
Leitsatz (amtlich)
1. Unterschiedliche Rechtsauffassungen und Handlungen zweier Landessozialgerichte über die Vorgehensweise bei örtlicher Unzuständigkeit kann höhere Gewalt iS des § 67 Abs 3 SGG darstellen.
2. Nach § 44 SGB 10 kann ein bestandskräftiger Rücknahmebescheid zurückzunehmen sein, wenn der Leistungsempfänger auf den Fortbestand einer rechtswidrigen Leistungsbewilligung vertrauen durfte.
Orientierungssatz
Nach Auffassung des Senats schließt § 151 SGG die Verweisung wegen örtlicher Unzuständigkeit im Berufungsverfahren nicht aus. Wenn es geboten ist eine bei einem örtlich unzuständigen Landessozialgericht eingelegte Berufung weiterzuleiten, so ist hierfür die Verweisung wegen örtlicher Unzuständigkeit nach § 98 SGG das zutreffende prozessuale Mittel. Eine Beschränkung der Anwendbarkeit des § 98 SGG lediglich auf das Verfahren vor den Sozialgerichten ist in § 153 Abs 1 SGG nicht angeordnet und ergibt sich auch nicht aus den übrigen Vorschriften bezüglich des Verfahrens vor dem Landessozialgericht.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 03.08.2010 sowie der Bescheid des Beklagten vom 25.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 26.10.2009 abgeändert.
Der Beklagte wird verpflichtet den Rücknahmebescheid des Beklagten vom 12.01.2009 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 16.03.2009 insoweit zurück zu nehmen, als der Bewilligungsbescheid vom 30.12.2008 für die Zeit vom 01.12.2008 bis 15.01.2009 zurückgenommen worden ist.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt ein Viertel der außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gegen einen Rücknahmebescheid des Beklagten, mit dem dieser die Bewilligung von Arbeitslosengeld II für den Zeitraum 01.12.2008 bis einschließlich 31.05.2009 zurückgenommen hat.
Der 1973 geborene Kläger ist moldawischer Staatsangehöriger. Er ist Diplom-Chemiker und reiste im Jahr 2001 - nach Abschluss seiner Ausbildung - in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ausweislich der Studienbescheinigung der Hochschule R. vom 13.04.2010 begann er zum 01.03.2008 ein Studium der Textiltechnologie - Textilmanagement mit dem Abschlussziel Master an der Hochschule R.. Aufgrund seines Studiums hat der Kläger seinen Nebenwohnsitz in Reutlingen unter Beibehaltung seines Hauptwohnsitzes in F. am M.. Bereits am 15.08.2006 beantragte er eine Vorabentscheidung über den Anspruch auf Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG). Mit Bescheid vom 10.10.2006 lehnte das Amt für Ausbildungsförderung des Studentenwerks T. diesen Antrag ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger bei Beginn des Ausbildungsabschnittes im Sommersemester 2007 das 30. Lebensjahr bereits vollendet habe und Ausbildungsförderung nur unter den Voraussetzungen des § 10 Abs. 3 Satz 2 BAföG geleistet werden könnte, die nicht vorliegen würden. Der Kläger sei weder aus persönlichen oder familiären Gründen gehindert gewesen, seine Ausbildung früher aufzunehmen, noch sei er aufgrund einschneidender Veränderungen der persönlichen Verhältnisse bedürftig geworden. Nach seinem schulischen und beruflichen Werdegang wäre es ihm möglich gewesen, nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2001 und einer Orientierungsphase von sechs Monaten ein Studium aufzunehmen. Ein Zeitraum von über fünf Jahren sei eindeutig zu lang, so dass die nach § 10 Abs. 3 letzter Satz BAföG erforderliche unverzügliche Ausbildungsaufnahme nach Wegfall der Hinderungsgründe nicht vorliege. Dieser Bescheid ist bestandskräftig.
Der Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50. Dem liegen gemäß Bescheid vom 18.09.2007 folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde: Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen, Migräne, seelische Störungen und Allergie der Haut/Schleimhäute. Auf Antrag des Klägers vom 23.11.2009 wurde der GdB durch Bescheid vom 07.12.2009 auf 80 erhöht. Zu den bisherigen Funktionsstörungen kam ein erworbenes Immunmangelsyndrom hinzu.
Mit Bewilligungsbescheid vom 08.05.2008 bewilligte die Agentur für Arbeit Frankfurt am Main dem Kläger Arbeitslosengeld I vom 17.04.2008 bis 18.10.2008 mit einem täglichen Leistungsbetrag in Höhe von 27,61 €. Mit Bescheid vom 06.10.2008 hob die Agentur für Arbeit Frankfurt am Main die Bewilligung von Arbeitslosengeld aufgrund Aufnahme einer Beschäftigung ab 18.08.2008 auf.
Mit Antrag vom 17.11.2008, beim Beklagten eingegangen am 08.12.2008, beantragte der Kläger beim Beklagten die Bewilligung von Arbeitslosengeld II. Unter Vorlage des Ablehnungsbescheids des Studentenwerk...