Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Feststellung der dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit. fehlende Rechtsgrundlage nach Gesetzesänderung. GdB-Feststellung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. einseitige periphere Fazialisparese. Hörverlust. Gleichgewichtsstörung. Kopfschmerzsymptomatik. Orientierung an echter Migräne. psychische Störung. stärker behindernde Störung. Erforderlichkeit eines zur ärztlichen oder psychotherapeutischen Behandlung führenden Leidensdrucks. Therapie-Erfordernis

 

Leitsatz (amtlich)

Seit der Änderung des § 33b EStG ab dem 15.12.2020 besteht für die Feststellung der dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit keine Rechtsgrundlage mehr (vgl BR-Drucks 432/20 S 10).

 

Orientierungssatz

1. Zur Feststellung des Grads der Behinderung (GdB) nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) in der Anlage zu § 2 VersMedV, ua nach Teil B Nr 2.4 (einseitige periphere Fazialisparese), Teil B Nr 5.2 (Hörverlust), Teil B Nr 5.3 (Gleichgewichtsstörung), Teil B Nr 2.3 (Kopfschmerzsymptomatik) und Teil B Nr 3.7 (psychische Störung).

2. Für die Bewertung einer Kopfschmerzsymptomatik ist eine Orientierung an den Vorgaben für die Bewertung der echten Migräne angezeigt (vgl Teil B Nr 1 Buchst b VMG).

3. Die Stärke eines empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern.

4. Hiernach kann bei fehlender ärztlicher oder psychotherapeutischer Behandlung in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt, die einen GdS-Bewertungsrahmen von 30 bis 40 eröffnet.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 07.08.2023; Aktenzeichen B 9 SB 15/23 B)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 12. März 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Erstfeststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit 80 sowie die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft und der dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit ab dem 20. Juli 2017.

Sie ist 1971 in der Türkei geboren. Dort hat sie eine Berufsausbildung zur Altenpflegerin absolviert. Seit 1992 lebt sie in Deutschland und war seit 2003 als Raumpflegerin (Reinigungskraft) im Kindergarten wie der Schule der Gemeinde D1 in Teilzeit (85 %) beschäftigt. Die Klägerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Söhnen. Seit 2018 erhält sie eine Rente wegen voller Erwerbsminderung (vgl. Rehabilitationsentlassungsbericht der m&i-Fachkliniken H1 und Gutachten des A1).

Am 20. Juli 2017 beantragte die Klägerin beim Landratsamt E1 (LRA) die Erstfeststellung des GdB und gab als hierbei zu berücksichtigende Gesundheitsstörungen und den daraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen ein Akustikneurinom rechts, eine periphere Facialisparese rechts, eine Embolisation einer spinalen Malformation, eine Hypothyreose, eine Hypästhesie der rechten Gesichtshälfte, eine Hypakusis rechts und einen Tinnitus rechts an.

Zur Vorlage kam der Bericht des Klinikums S1 über die stationären Behandlungen der Klägerin am 26. Januar 2017 sowie vom 12. bis zum 24. Februar 2017, der die Diagnosen Akustikneurinom rechts, Facialisparese rechts (House Brackmann Grad V) und Hörminderung rechts sowie als Nebendiagnosen arterielle Hypertonie, Hypothyreose, Hysterektomie 2016 und Zustand nach (Z. n.) Embolisation einer spinalen Malformation 2014 aufführte. Als Therapie sei die mikrochirurgische Resektion des Akustikneurinoms rechts über einen retrosigmodalen Zugang unter intraoperativem neurophysiologischem Monitoring am 13. Februar 2017 erfolgt. Postoperativ habe sich eine Facialisparese sowie eine deutliche Hörminderung rechts gezeigt, sonstige neurologische Defizite hätten nicht bestanden.

Aus dem im Weiteren zur Vorlage gekommenen ärztlichen Bericht der m&i-Fachkliniken    H1 über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme der Klägerin vom 28. Februar bis zum 22. April 2017 ergab sich unter den Diagnosen Akustikneurinom rechts, OP am 13. Februar 2017, periphere Facialisparese rechts (House Brackmann Grad V), leichte Gleichgewichtsstörung, Hypakusis rechts, Tinnitus rechts, Hypästhesie rechte Gesichtsseite und arterielle Hypertonie ein arbeitstägliches Leistungsvermögen sowohl für die von der Klägerin zuletzt ausgeübte Beschäftigung als Raumpflegerin (Reinigungskraft) als auch für den allgemeinen Arbeitsmarkt von sechs Stunden und mehr. Bei Aufnahme sei die Klägerin bewusstseinsklar und orientiert mit differenzierter Mnestik, schwingungsfähigem Affektverhalten, gedrückter Stimmung und regelrechtem Antrieb, Mimik wie Gestik gewesen. Es habe eine ausgeprägte Fazialisparese rechts bestanden; ansonsten sei die Feinmotorik un...

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