Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Aufhebung eines vollständigen Bescheides über die Gewährung einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung durch das Erstgericht. unterbliebene Anfechtung eines eigenständig anfechtbaren, belastenden Verfügungssatzes im Rentenbescheid. überzahlte Zuschüsse zur freiwilligen Krankenversicherung nach § 106 SGB 6. kein atypischer Fall iS des § 48 SGB 10 bei einer sehr langen vorsätzlichen Verletzung der Mitteilungspflicht. fehlende bzw fehlerhafte Datensatzübermittlung der Krankenkasse. hinreichende Bestimmtheit einer Aufhebung der Zuschussbewilligung. sachliche Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers bei Entscheidungen über Beitragstatbestände im Rahmen der Krankenversicherung der Rentner. Einmalzahlung durch den Versicherten während des Rechtsstreits zur Vermeidung einer monatlichen Einbehaltung im Wege der Quasi-Aufrechnung. Erfüllungswirkung. Darlegungslast für eine Hilfebedürftigkeit iS des § 51 Abs 2 SGB 1
Leitsatz (amtlich)
1. Wird ein eigenständig anfechtbarer, belastender Verfügungssatz in einem Rentenbescheid nicht angefochten und hebt das Erstgericht gleichwohl den Rentenbescheid in Gänze auf, liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz "ne ultra petita" (vgl § 123 SGG) vor.
2. Ein atypischer Fall im Rahmen des § 48 SGB X ist zu verneinen, wenn der Leistungsempfänger über 18 Jahre lang vorsätzlich gegen seine Mitteilungspflichten (hier: Beendigung der freiwilligen Krankenversicherung) gegenüber dem Rentenversicherungsträger verstoßen hat; ein behördliches Mitverschulden an überzahlten Zuschüssen zur freiwilligen Krankenversicherung liegt nicht in einer fehlenden/fehlerhaften Datensatzübermittlung der Krankenkasse (Anschluss an LSG Stuttgart vom 25.5.2023 - L 10 R 39/20 = juris RdNr 60 ff).
3. Die Aufhebung der Zuschussbewilligung ist auch dann hinreichend bestimmt, wenn der Rentenversicherungsträger zwar datumsmäßig den falschen Bescheid nennt, sich nach dem Gesamtzusammenhang (namentlich nur eine bestehende Zuschussbewilligung im betroffenen, eingegrenzten Zeitraum) aber klar und unzweifelhaft ergibt, welcher Bescheid (datumsmäßig) gemeint ist (Anschluss an LSG Stuttgart vom 16.11.2023 - L 10 R 586/21 = juris RdNr 35, 49 ff).
4. Im Rahmen einer Einbehaltungsverfügung von Beiträgen/Beitragsanteilen aus der laufenden Rente zur gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung trifft der Rentenversicherungsträger als sachlich zuständiger Träger (konkludent) auch Feststellungen zum Beitragstatbestand (Anschluss ua an BSG vom 31.3.2017 - B 12 R 6/14 R = SozR 4-2500 § 255 Nr 2 RdNr 24, 29, 31 f mwN); im Rahmen dessen spielen namentlich Verschuldens- oder Vertrauensschutzgesichtspunkte hinsichtlich der Beitragspflicht und -tragung grundsätzlich keine Rolle, ebenso wenig, ob der Versicherte um seine Versicherungspflicht wusste oder nicht; dem Rentenversicherungsträger steht auch kein Ermessen zur Seite.
5. Zahlt der Versicherte während des Rechtsstreits zur Vermeidung einer monatlichen Einbehaltung im Wege der Quasi-Aufrechnung mit der laufenden Rente (§ 255 Abs 2 S 1 SGB V iVm § 60 Abs 1 S 2 SGB XI) die rückständigen Beiträge/Beitragsanteile qua Einmalzahlung, erledigt sich die Einbehaltungsverfügung (§ 39 Abs 2 SGB X) erst mit Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung: im Falle der gerichtlichen Kassation der Einbehaltungsverfügung ist die Zahlung dann rechtsgrundlos erfolgt und vom Rentenversicherungsträger zurückzuzahlen, im Falle ihrer Rechtmäßigkeit kommt der Zahlung mit Rechtskraft die erforderliche Erfüllungswirkung zu und für eine Einbehaltung besteht dann kein Raum mehr.
6. Die Darlegungslast für eine Hilfebedürftigkeit iS des § 51 Abs 2 SGB I durch die Einbehaltung liegt beim Versicherten; die pauschale Behauptung, eine Einbehaltung bis zur Hälfte der monatlichen Rente stelle "einen nachhaltigen und schwerwiegenden Eingriff" dar, genügt dem nicht.
Orientierungssatz
1. Auch zur Auslegung von Aufhebungsverwaltungsakten kann auf den gesamten Inhalt eines Bescheids einschließlich der von der Behörde gegebenen Begründung, auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte oder auf allgemein zugängliche Unterlagen zurückgegriffen werden. Diese Auslegungsmöglichkeiten finden bei Aufhebungsverwaltungsakten ihre Grenze dort, wo es dem Adressaten überlassen bleibt, Gegenstand, Inhalt, Zeitpunkt und Umfang der Aufhebung zu bestimmen, weil der in begünstigende Rechtspositionen eingreifende Leistungsträger verpflichtet ist, diese Entscheidung selbst zu treffen und dem Adressaten bekanntzugeben.
2. Ob eine andere Behörde, vorliegend namentlich die Krankenkasse, Kenntnis von Umständen hat, die die Aufhebung eines von einer anderen Behörde (hier: der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung) erlassenen Dauerverwaltungsakts wegen einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse rechtfertigen könnten, ist für die Jahresfrist des § 48 Abs 4 S 1 iVm § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 ohne Belang (vgl LSG Stuttgart vom 25.5.2023 - ...