Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Sachverständigengutachten. Prüfung einer Erwerbsminderung auf Grundlage objektiv-klinischer, ärztlicher Befunde
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Erwerbsminderung kann nicht mit einem Sachverständigengutachten begründet werden, in dem der Sachverständige seine erstmals gestellte Diagnose einer Schizophrenie im Erwachsenenalter allein auf "gezielte" Nachfragen beim Versicherten ("Stimmen hören") stützt.
2. Ohnehin kommt es im Rahmen der Prüfung von Erwerbsminderung nicht entscheidend auf Diagnosen oder die Bezeichnung von Krankheitsbildern an, sondern auf zeitlich überdauernde funktionelle Defizite auf Grundlage objektiv-klinischer, ärztlicher Befunde, die schlüssig und nachvollziehbar sein müssen (Anschluss an LSG Stuttgart vom 16.5.2024 - L 10 R 3332/23 = juris RdNr 30).
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 16.01.2024 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten noch darüber, ob die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen (voller) Erwerbsminderung im Zeitraum vom 01.03.2024 bis 28.02.2026 hat.
Die 1964 geborene Klägerin erlernte von Herbst 1979 bis Mitte 1982 nach eigenen Angaben den Beruf einer Schriftsetzerin und war in diesem Beruf bis Frühjahr 1991 beschäftigt. Nach Mutterschutz und Kindererziehungszeiten arbeitete sie von Anfang Mai 1999 bis Ende Juli 2016 - zeitweise geringfügig ohne Versicherungspflicht sowie mit Unterbrechungen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit - als Verkäuferin bzw. Aushilfe in einer Gärtnerei. Im Zeitraum von Anfang August 2016 bis Ende August 2019 absolvierte die Klägerin auf Kosten der Bundesagentur für Arbeit eine Umschulung zur Erzieherin. Seither war sie - mit Unterbrechungen, u.a. durch Zeiten der Arbeitsunfähigkeit - bis Ende August 2023 (vgl. Angabe S. 61 SG-Akte) als Erzieherin in verschiedenen Kindertageseinrichtungen in Teilzeit (Angaben S. 222 VerwA, S. 61 SG-Akte: vier Stunden an vier Tagen die Woche) beschäftigt. Wegen der weiteren Einzelheiten der zurückgelegten rentenversicherungsrechtlichen Zeiten wird auf den Versicherungsverlauf vom 04.03.2024 (S. 24 ff. Senats-Akte) Bezug genommen.
In der Zeit vom 06.04. bis 04.05.2021 nahm die Klägerin an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme in der W1-Klinik in B1 teil, aus der sie ausweislich des ärztlichen Entlassungsberichts (S. 255 ff. VerwA) arbeitsfähig und mit einem Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entlassen wurde (Diagnose: Anpassungsstörung unter Hinweis auf Arbeitsplatzkonflikte). Die Reha-Ärzte dokumentierten eine Diskrepanz zwischen dem klinisch nicht höhergradig auffälligen psychopathologischen Befund und den Angaben der Klägerin im testpsychologischen Fragebogen.
Am 02.06.2022 beantragte die Klägerin die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung und machte geltend, wegen psychischer Probleme („immer mehr Druck, Burn-out“, S. 184 VerwA) seit Anfang 2021 erwerbsgemindert zu sein. Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen bei und ließ diese sozialmedizinisch auswerten. Der Beratungsarzt S1 sah eine Anpassungsstörung bei Neurasthenie ganz im Vordergrund stehend und erachtete die Leistungsbeurteilung der Reha-Ärzte (weiterhin) für zutreffend (Stellungnahme vom 14.07.2022, S. 202 f. VerwA). Mit Bescheid vom 18.07.2022 (S. 170 f. VerwA) lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, da die medizinischen Voraussetzungen einer Erwerbsminderung nicht vorlägen.
Im Widerspruchsverfahren zog die Beklagte weitere Befundunterlagen bei (u.a. Arztbrief des M1 vom 14.10.2022, S. 205 f. VerwA: einmalige Behandlung Ende September 2022, keine Mitteilung eines klinischen Befunds, breite lebensgeschichtliche Darstellung und Wiedergabe der klägerischen Beschwerdeangaben - kein „Stimmen hören“ -, Angabe von Arbeitsplatzkonflikten, Diagnosen: Anpassungsstörungen, psychovegetative Erschöpfung, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, somatoforme autonome Funktionsstörung von Herz und Kreislaufsystem, Leistungsvermögen: allenfalls vier Stunden arbeitstäglich) und holte das Gutachten der L1 vom 14.12.2022 ein (S. 218 ff. VerwA). Die Klägerin gab im Rahmen der Untersuchung Anfang Dezember 2022 u.a. an (s. ausführlich auch zur Lebensgeschichte S. 220 ff. VerwA), im letzten Jahr Beschwerden „gehabt“ zu haben, „noch weiterhin Atemnot, Herzrasen, seelische Probleme“ (S. 220 VerwA). Bei ihrem behandelnden M1 sei sie bisher zweimal gewesen. Psychopharmaka nehme sie nicht ein, die ihr verschriebenen pflanzlichen Präparate hätten nicht geholfen. Sie interessiere sich sehr für Malerei und Kunst und male auch selbst, was ihr guttue, ebenso Yoga („seit 20 Jahren“) und Nordic Walking. Zu Hause koche sie, erledige den Haushalt (Wäsche, Spülmaschine, Essen zubereiten),...