Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Unverwertbarkeit eines schriftlichen Gutachtens. Erstellung des Gutachtens erst nach fast acht Monaten nach der Untersuchung
Leitsatz (amtlich)
Liegt ein Zeitraum von fast acht Monaten zwischen Untersuchung und Abfassung des Gutachtens, ist dieses nicht mehr als Sachverständigengutachten verwertbar. Dies gilt unabhängig davon, auf welchem medizinischen Fachgebiet das Gutachten eingeholt worden ist. Das unverwertbare Gutachten kann auch nicht im Wege des Urkundsbeweises verwertet werden.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 21.07.2023 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten noch darüber, ob die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen (voller) Erwerbsminderung im Zeitraum vom 01.06.2020 bis 31.05.2023 hat.
Die 1965 geborene Klägerin (nach erneuter Heirat im September 2022 gesch. W1, S. 219 SG-Akte) erlernte von Anfang August 1980 bis Ende Juli 1983 den Beruf einer Fleischereifachverkäuferin, den sie bis Sommer 1985 ausübte. Von Anfang Juli 1985 bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit Anfang September 2018 war sie (mit Unterbrechung durch Schwangerschaft und Mutterschutz) versicherungspflichtig als Maschinenarbeiterin im pharmazeutischem Bereich eines Kunststoffherstellers (S1 GmbH in S2; vgl. S. 55, 96 VerwA) tätig. Im Anschluss bezog sie bis Ende November 2019 Krankengeld (S. 195 VerwA). Seither lebte sie nach eigener Angabe von Unterhaltszahlungen ihres (Ex-)Ehemanns (S. 122 SG-Akte). Bei ihr ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 sowie der Nachteilsausgleich Merkzeichen „G“ seit 31.10.2019 festgestellt (S. 20 VerwA).
Vom 31.01. bis 21.02.2019 nahm die Klägerin an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme in der Rehaklinik Ü1 in I1 im A1 teil, aus der sie ausweislich des ärztlichen Entlassungsberichts vom 27.02.2019 (S. 48 ff. VerwA; Diagnosen: Bewegungs- und Belastungsdefizit der Lendenwirbelsäule [LWS] bei degenerativen Veränderungen und Fehlstatik bei muskulären Dysbalancen, Gonarthrose beidseits mit Bewegungs- und Belastungsdefizit, medikamentös behandelte arterielle Hypertonie, eingeschränkte kardiopulmonale Belastbarkeit bei Adipositas, abhängige Persönlichkeitsstörung mit schwer beeinträchtigter Selbstbehauptungsfähigkeit, Zustand nach [Z.n.] zweimaliger Arthroskopie linkes Knie 2015/16, einmal Komazustand nach Arthroskopie rechtes Knie im November 2018, Verdacht auf [V.a.] Angststörung) zwar arbeitsunfähig, aber mit einem Leistungsvermögen von mehr als sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in wechselnder Körperhaltung (überwiegend im Sitzen, ohne erhöhte Anforderungen an die Geh- und Stehfähigkeit, ohne schweres Heben und Tragen von Lasten, ohne häufiges Bücken bzw. ohne langanhaltende Tätigkeiten in überwiegenden Zwangshaltungen) entlassen wurde. Die Ärzte vermerkten in ihrem Bericht u.a.: „Es liegen keine Hinweise für eine Erkrankung aus dem psychologisch-psychiatrischen Formenkreis vor. Ebenfalls kann keine ausgeprägte Bewältigungsproblematik im Umgang mit den vorliegenden Gesundheitsstörungen festgestellt werden“ (S. 56 VerwA).
Unter dem 13.11.2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Nach Vorlage medizinischer Unterlagen (u.a. Entlassungsbericht der Ärzte der A2 Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie B1 vom 11.10.2019, S. 109 ff. VerwA; dort namentlich Angabe eines Schmerzerlebens von 10/10 auf der Analog-Skala, bei Entlassung Ende August 2019 6/10) holte die Beklagte bei L1 das Gutachten vom 02.01.2020 ein (S. 79 ff. VerwA). Dieser nannte nach Untersuchung der Klägerin am 17.12.2019 folgende Diagnosen: belastungsabhängige Schmerzen und mittelgradige Funktionseinbußen des linken Kniegelenks bei beidseitigem Verschleißleiden, rechts gute Funktion bei Z.n. implantierter Endoprothese (bikondylär) im Juni 2019; am ehesten verschleißbedingte belastungsabhängige Kreuzschmerzen, aktuell ohne Funktionseinbußen und ohne Hinweise auf Nervenwurzelschädigung; leichte Funktionseinbußen der Halswirbelsäule (HWS), ebenfalls ohne Hinweise auf eine Nervenwurzelschädigung; leichtgradige Polyneuropathie ohne Beeinträchtigung der Gang- und Standsicherheit; chronifizierte Schmerzerkrankung mit körperlichen und psychischen Faktoren (vorbefundlich schweres Fibromyalgie-Syndrom) bei aktuell regelmäßiger Einnahme zweier leichter Schmerzmittel; vorbefundlich hochgradige Depression, aktuell (ohne antidepressiv wirksame Medikation) allenfalls leichtgradig; Ohrgeräusche sowie beidseitige geringe Innenohrschwerhörigkeit; bekannter Bluthochdruck, medikamentös behandelt, unkompliziert, aktuell (nach zweiwöchigem Absetzen des Blutdruckmittels) erhöhte Messwerte bei subjektiv wiederkehr...