Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsprüfung. Rechtmäßigkeit der Geltendmachung einer Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen für die Zeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens
Leitsatz (amtlich)
Der Geltendmachung einer Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen für die Zeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch Leistungs- bzw Zahlungsbescheid während des Restschuldbefreiungsverfahrens steht das insolvenzrechtliche Verbot der Einzelzwangsvollstreckung nach § 294 Abs 1 InsO nicht entgegen. Das Vollstreckungsverbot des § 294 Abs 1 InsO schützt den Schuldner ebenso wenig vor der Titulierung einer Insolvenzforderung wie das Vollstreckungsverbot des § 210 InsO.
Orientierungssatz
Zu Leitsatz vgl BSG vom 28.5.2015 - B 12 R 16/13 R = SozR 4-2400 § 28p Nr 5.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 14.03.2014 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Der Streitwert wird endgültig auf 68.977,02 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Berechtigung der Beklagten, eine Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von 68.977,02 € gegen die Klägerin geltend zu machen.
Die 1957 geborene Klägerin betrieb von Mai 2005 bis März 2008 eine Gebäudereinigungsfirma. Seit April 2007 betrieb sie zusätzlich eine Gaststätte. Im Juli 2007 leitete das Hauptzollamt aufgrund einer Anzeige des Ehemanns der Klägerin ein Ermittlungsverfahren gegen die Klägerin wegen des Verdachts des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a Strafgesetzbuch -StGB-) ein. Die Klägerin wurde mit Urteil des Amtsgerichts E. vom 26.10.2011 (1 Cs 4... Js 3.../...) wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 27 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt.
Mit Beschluss vom 30.09.2010 hatte des Amtsgericht F. das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Klägerin eröffnet (... IK 4.../...). Mit Beschluss des Amtsgerichts vom 22.09.2011 wurde der Klägerin die Restschuldbefreiung nach § 291 Insolvenzordnung (InsO) angekündigt, mit weiterem Beschluss vom 03.11.2011 wurde das Insolvenzverfahren aufgehoben.
Die Beklagte hatte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens auf Anfrage des Hauptzollamts L. eine Schadensberechnung vorgenommen und dem Hauptzollamt unter dem 16.03.2009 einen der Sozialversicherung entstandenen Schaden durch vorenthaltene Arbeitgeber- und Arbeitnehmerpflichtbeiträge sowie Umlagebeträge in Höhe vom 47.710,54 € mitgeteilt. Sie hörte die Klägerin mit Schreiben vom 20.03.2009 zu einer beabsichtigen Nachforderung in Höhe von 58.947,63 € (einschließlich Säumniszuschlägen in Höhe von 11.237,00 €) an.
Mit Bescheid vom 15.02.2012 setzte die Beklagte gegenüber der Klägerin eine Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 68.977,02 € (einschließlich Säumniszuschlägen in Höhe von 24.920,00 €) für den Zeitraum vom 01.01.2006 bis zum 31.03.2008 fest und forderte die Klägerin zur fristgerechten Zahlung an die Einzugsstelle auf.
Dagegen erhob die Klägerin am 12.03.2012 Widerspruch, den sie damit begründete, dass über ihr Vermögen am 30.09.2010 das Insolvenzverfahren eröffnet worden sei. Die Ansprüche aus der Betriebsprüfung seien spätestens zu diesem Zeitpunkt fällig geworden und hätten durch Anmeldung zur Tabelle tituliert werden müssen. Sie dürften nun nicht mehr durch Bescheid geltend gemacht werden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 20.06.2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Das Insolvenzverfahren sei am 03.11.2011 aufgehoben worden. Zwar sei eine nachträgliche Forderungsanmeldung zur Insolvenztabelle nicht möglich, aber das Vollstreckungsverbot aus § 89 InsO sei nach der Aufhebung des Insolvenzverfahrens weggefallen. Die Geltendmachung der Nachforderung durch Bescheid sei daher wieder möglich. Eine Restschuldbefreiung sei zwar beantragt, aber noch nicht erteilt worden. Ob die Klägerin die Nachforderung tatsächlich zahlen könne, sei für die rechtliche Beurteilung unerheblich. Die Vollstreckbarkeit werde durch die zuständige Krankenkasse geprüft.
Am 20.07.2012 erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) und machte geltend, das Insolvenzverfahren sei zwar aufgehoben worden, die Restschuldbefreiung sei aber nicht versagt, sondern angekündigt worden und werde voraussichtlich am 01.10.2016 erteilt. Das Recht der Gläubiger, ihre restlichen Forderungen gegen den Schuldner unbeschränkt geltend zu machen, sei durch die Ankündigung der Restschuldbefreiung zunächst suspendiert und trete endgültig nicht ein, wenn sie erteilt werde. Auch im Restschuldbefreiungsverfahren gelte § 87 InsO, wonach es nicht möglich sei, Insolvenzforderungen geltend zu machen. Der Bescheid sei daher zumindest rechtswidrig, aber auch nichtig, weil er nicht an die Klägerin selbst, sondern an ihren Insolvenzverwalter hätte adressiert werden müssen.
Die Beklagte trat der Klage entgegen. Im Restschuldbefreiungsverfahren sei nur die Zwangsvollstreckung gemäß § 294 InsO un...