Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Versorgung mit Cannabis gemäß § 31 Abs 6 SGB 5. Reizdarmsyndrom als schwerwiegende Erkrankung (hier: verneint). Rücknahme eines begünstigenden rechtswidrigen Verwaltungsakts. Beurteilung des Vorliegens grober Fahrlässigkeit beim Versicherten (hier: verneint)

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Reizdarmsyndrom ist keine schwerwiegende Erkrankung iSd § 31 Abs 6 SGB V.

2. Erteilt die Krankenkasse eine Genehmigung zur Versorgung mit Cannabis (§ 31 Abs 6 S 2 SGB V), die von Anfang an rechtswidrig ist, fehlt es an einem schutzwürdigen Vertrauen des Versicherten auf den Bestand dieser Genehmigung, wenn die Krankenkasse die Genehmigung bereits einen Monat später gemäß § 45 SGB X wieder zurücknimmt und der Versicherte in der Zeit zwischen Erteilung und Rücknahme der Genehmigung erkennbar keine Vermögensdisposition getroffen hat. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Versicherter die Rechtswidrigkeit der ihm erteilten Genehmigung infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X), darf eine nähere Kenntnis der Rechts der GKV von ihm nicht abverlangt werden.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 18.08.2022; Aktenzeichen B 1 KR 50/21 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 22.10.2020 abgeändert.

Der Bescheid der Beklagten vom 23.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.08.2020 wird aufgehoben, soweit damit der Bescheid vom 26.05.2020 auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird.

Die Beklagte wird außerdem verurteilt, dem Kläger 134,26 € zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den außergerichtlichen Kosten des Klägers im Klage- und im Berufungsverfahren trägt die Beklagte die Hälfte.

 

Tatbestand

Der Kläger macht einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten (Bedrocan) und die Erstattung eines Teils der ihm für die Selbstbeschaffung bereits entstandenen Kosten geltend.

Der 1982 geborene Kläger beantragte unter Vorlage eines von seinem T ausgefüllten Arztfragebogens zu Cannabinoiden nach § 31 Abs 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) vom 26.01.2020 nebst Befundberichten sowie einer Beschwerdeschilderung am 31.01.2020 (Posteingang bei der Beklagten) die Versorgung mit Cannabisblüten zur Behandlung eines Reizdarmsyndroms.

Mit Schreiben vom 05.02.2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die Unterlagen an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (MDK) zur Beurteilung versandt worden seien und deshalb die Frist bis 09.03.2020 verlängert werde. Unter dem 03.03.2020 informierte die Beklagte den Kläger, es würden noch weitere Unterlagen vom Arzt für die medizinische Beurteilung benötigt, diese seien angefordert worden. Eine Entscheidung innerhalb der Fünf-Wochen-Frist sei daher nicht möglich. Der Kläger erhalte daher bis spätestens 02.04.2020 Nachricht. In einem Gutachten nach Aktenlage vom 10.03.2020 kam der MDK zu dem Ergebnis, die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung seien nicht erfüllt. Nach den vorliegenden Unterlagen könne nicht bestätigt werden, dass der Kläger unter einer schwerwiegenden Erkrankung leide. Die Einschätzung der behandelnden Ärzte, eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapiealternative könne nicht zur Anwendung kommen, sei nicht nachvollziehbar. Für die positive Beeinflussung eines Reizdarmsyndroms durch Cannabis fehle es an belastbarer Evidenz.

Mit Fax seiner Prozessbevollmächtigten vom 13.03.2020 teilte der Kläger der Beklagten mit, es sei eine Genehmigungsfiktion eingetreten. Das Schreiben der Beklagten vom 03.03.2020 habe er am 10.03.2020 erhalten, die Fünf-Wochen-Frist sei jedoch bereits am 09.03.2020 abgelaufen. Es liege ohnehin kein hinreichender Grund für eine Verzögerung vor.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 13.03.2020 den Antrag gestützt auf das MDK-Gutachten ab. Der Kläger erhob am 25.03.2020 Widerspruch. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers legte mit Schriftsatz vom 04.05.2020 ausführlich dar, weshalb ihrer Ansicht nach eine Genehmigungsfiktion eingetreten sei. Wörtlich heißt es: „Der Widerspruch war nur vorsorglich erhoben worden, um weitere spitzfindige Argumentation zu verhindern, und wie man an dem bisherigen Verlauf sieht, zu Recht. Deshalb bleibt der Widerspruch aufrechterhalten. Die Genehmigungsfiktion besteht unabhängig davon. Ich gehe nicht davon aus, dass es nötig sein wird, diese völlig eindeutige Situation vor Gericht im Rahmen einer Leistungsklage klären zu müssen. Ich bitte um Übermittlung der Bestätigung der Genehmigungsfiktion bis spätestens zum 12.05.2020.“

Hierauf erwiderte die Beklagte mit Schreiben vom 26.05.2020: „Vielen Dank, dass Sie uns die Hintergründe näher erläutert haben, die für Ihren Widerspruch entscheidend waren. Wir haben uns nochmals intensiv mit den von Ihnen genannten Argumenten beschäftigt und können Ihrem Widerspruch abhelfen. Der Antrag auf Kostenübernahme mit der Versorgung von Cannabinoid Bedrocan, zur D...

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