Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Vermögensberücksichtigung. Sonderregelung aus Anlass der COVID-19-Pandemie. Nichtberücksichtigung von Vermögen für die Dauer von sechs Monaten. Anwendungsbereich. Wechsel vom Arbeitslosengeldbezug in den Arbeitslosengeld II-Bezug. Auslegung des Begriff des "erheblichen Vermögens". Grenzwert von 60.000 Euro für Alleinstehende

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Anwendungsbereich von § 67 Abs 1, Abs 2 SGB II ist nicht auf bestimmte Personenkreise wie Kleinunternehmer, Solo-Selbständige oder Personen, deren Antragstellung beim SGB II-Träger eine unmittelbare kausale Verknüpfung mit Auswirkungen der Pandemie aufweist, beschränkt.

2. Erhebliches Vermögen gem § 67 Abs 2 S 1 und 2 SGB II ist ein Betrag von mehr als 60.000 € für Alleinstehende.

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 04.08.2021 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis 30.04.2021 hat.

Der Kläger ist im Jahr 1974 geboren worden, deutscher Staatsbürger und bezog bis zum 09.01.2021 Arbeitslosengeld (ALG). Am 08.01.2021 beantragte er bei dem Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Im vom Beklagten zur Verfügung gestellten Antragsformular kreuzte der Kläger bei dem Feld „Meine Bedarfsgemeinschaft verfügt über erhebliches Vermögen“ die Antwort „Nein“ an. In dem Vordruck fand sich hierzu folgende Erläuterung: „Erheblich ist kurzfristig für den Lebensunterhalt verwertbares Vermögen der Antragstellerin/des Antragstellers über 60.000 Euro sowie über 30.000 Euro für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft. Beispiele: Barmittel, Sparguthaben, Tagesgelder, Wertpapiersparpläne und -depots. Nicht in die Erheblichkeitsprüfung einzubeziehen sind Vermögensgegenstände, die nicht frei verfügbar sind. Dazu gehören insbesondere selbstgenutzte Wohnimmobilien und typische Altersvorsorgeprodukte wie Kapitallebens- oder rentenversicherungen. Sollte bei Ihnen erhebliches Vermögen vorliegen, füllen Sie bitte die Anlage VM aus.“

Dem Antrag legte der Kläger u.a. folgende Unterlagen bei: Einen Kontoauszug seines Girokontos bei der P. (Kontostand am 04.01.2021: 6.152,30 €), einen Jahresdepotauszug zum 31.12.2020 des Unternehmens D. I. über Wertpapiere mit einem Rücknahmepreis von 10.734,49 € (Unterdepot 00) und 3.801,54 € (Unterdepot 01), einen Kontoauszug vom 31.12.2020 bezüglich der „P. SparCard direkt“ (Kontostand: 21.018,43 €) sowie einen Kontoauszug zum „P. Aktiv-Sparen“ vom 31.12.2020 (Kontostand 1.580,85 €).

Nach entsprechender Aufforderung durch den Beklagten legte der Kläger den ausgefüllten Vordruck VM vor. Neben den bereits angegebenen Vermögenswerten wurde darin die Existenz einer fondsgebundenen Rentenversicherung mit Todesfallabsicherung („S. T. Profi-Plan“) mitgeteilt, deren Rückkaufswert zum 30.11.2020 von der Versicherungsgesellschaft mit 10.835,05 € angegeben wurde.

Der Beklagte lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 12.04.2021 ab. Der Kläger verfüge über verwertbares Vermögen in Höhe von 54.122,66 €, welches den Vermögensfreibetrag in Höhe von 7.650 € übersteige. Der Kläger sei daher nicht hilfebedürftig und habe keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Das Sozialschutzpaket gelte für sog. Neukunden, die pandemiebedingt einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes stellen müssten, nicht aber für Leistungsempfänger, welche vor der Antragstellung im ALG-Bezug gestanden hätten und auf Grund des Endes des Anspruches auf ALG nun in das SGB II wechselten.

Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein. Der Antrag sei im vereinfachten Verfahren mit Aussetzung der Vermögensprüfung zu bearbeiten und erhebliches Vermögen im Sinne von § 67 SGB II liege nicht vor. Die Antragstellung erfolge zudem ausschließlich pandemiebedingt, denn ohne diese Rahmenbedingungen hätte der Kläger schon eine Beschäftigung gefunden.

Laut Aktenvermerk vom 06.05.2021 brachte der Beklagte im Rahmen einer Rücksprache mit der zuständigen Arbeitsagentur in Erfahrung, dass der Kläger vom 01.10.2019 bis 09.01.2021 ALG bezogen habe.

Anschließend wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18.05.2021 zurück. Der Kläger sei wegen des vorhandenen Vermögens nicht hilfebedürftig. Er habe in der Zeit vom 01.10.2019 bis 09.01.2021 ALG bezogen, sei also seit Oktober 2019 arbeitslos. Mit dem vereinfachten Antrag und Bewilligungsverfahren nach § 67 SGB II habe der Gesetzgeber Antragsteller begünstigen wollen, die erstmalig infolge der pandemiebedingten Einkommenseinbußen Leistungen nach dem SGB II beantragten, was hier nicht der Fall sei. Der Kläger sei nicht aufgrund der Pandemie arbeitslos geworden und sein Fall sei nicht mit der besonderen Situation v...

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